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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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versteckt, die auf eine luxuriöse Zukunft Hoffnung machten, die andere Hälfte seit fünfzehn Jahren außer Acht gelassen.
    Das Taxi setzte sie vor ihrer Wohnung ab. Sie hatte keinen Schlüssel mehr, aber Annukka, das finnische Mädchen, das auf der anderen Flurseite wohnte und für die OSZE arbeitete, bewahrte einen Zweitschlüssel auf. Es war später Samstagnachmittag; sie hörte jemanden hinter der Tür singen.
    Annukka öffnete mit einem Handtuchturban auf dem Kopf. Sie machte sich offenbar fertig, um auszugehen.
    «Oh, mein Gott, Abby!» Sie warf ihre Arme um Abby und gab ihr einen Kuss auf beide Wangen, so herzlich, dass Abby ihr Gedächtnis bemühen musste. In ihrer Erinnerung war Annukka eine jener Nachbarinnen, die zur Begrüßung lächelte und, wenn nötig, die Pflanzen goss. Aber vielleicht war es ja doch anders. Auslandseinsätze in europäischer Mission hatten neben der Arbeit auch manches mit Ferien in einem Sommerlager gemein. Man schloss Freundschaften, tauschte Persönliches aus, und wenn der Sommer vorüber war, geriet schnell in Vergessenheit, dass man sich versprochen hatte, miteinander in Kontakt zu bleiben und sich zu schreiben. Das war es auch, was Abby die Affäre mit Michael so leichtgemacht hatte.
    Aber nun, da er verschwunden ist, jage ich ihm nach.
    «Wir haben uns alle schreckliche Sorgen gemacht», sagte Annukka. «Wir hörten dauernd diese verrückten Geschichten von dir und Michael. Sogar in den Nachrichten. Ich bin von Journalisten angesprochen worden, habe aber kein Wort gesagt. Ich wusste ja auch nichts. Geht’s dir wieder gut?» Sie sah die Wunde, die die Pistole an Abbys Kinn gerissen hatte, und die Schwellung am Mund. «Was ist passiert?»
    Abby legte ihr eine Hand auf die Schulter. «Lass uns später darüber reden. Ich bin soeben erst angekommen und brauche erst einmal ein bisschen Ruhe.»
    «Natürlich. Wenn ich dir helfen kann, lass es mich wissen, okay?»
    Annukka wirkte so betroffen und eifrig bemüht, dass Abby fast in Tränen ausgebrochen wäre.
    «Du hast doch hoffentlich noch den Schlüssel für meine Wohnung?»
    «Richtig, der Schlüssel.» Ein Schatten legte sich auf Annukkas Gesicht. «Tut mir leid, Abby, aber den habe ich der Polizei gegeben. Zwei Typen von EULEX waren hier, und Polizisten. Sie wollten deine Wohnung durchsuchen. Ich dachte, sie würden Sachen für dich einpacken. Den Schlüssel haben sie mir, glaube ich, nicht zurückgegeben.»
    Abby starrte auf ihre Wohnungstür und das Zyklopenauge des Spions darin.
    «Du kannst gern bei mir wohnen», plapperte Annukka weiter. Dann krauste sie die Stirn und fügte hinzu: «Allerdings treffe ich mich heute Abend mit Felix und werde wahrscheinlich über Nacht wegbleiben. Wenn du willst, kannst du meinen Schlüssel haben.»
    «Ach, lass mal», sagte Abby beruhigend. «Ich gehe zur Polizeistation und hole mir meinen Schlüssel.»
    Sie ging langsam die Treppe hinunter, bis sie Annukka den Riegel vorschieben hörte, setzte sich dann auf eine der Stufen und schlug die Hände vors Gesicht.
    Jetzt komme ich nicht einmal mehr in meine eigene Wohnung. Von allem, was ihr seit dem Ausflug mit Michael widerfahren war, erschien ihr dieser Umstand besonders ungerecht. Die Welt hatte sich von ihr abgewendet; sie wurde in Richtung Ausgang gedrängt. Die kalte Treppenstufe war jetzt ihr Zuhause und auch das nur sehr kurzfristig. Schon als sie von Annukka in den Arm genommen worden war, hatte sie sich gefühlt wie eine Frau, die entgleitet und ertrinkt.
    Es gibt hier wieder kein Wasser. Typisch für Priština. Über zehn Jahre hatte die internationale Gemeinschaft Milliarden von Dollar in den Wiederaufbau investiert, doch wenn man einen Schalter umlegte oder den Hahn aufdrehte, war nie sicher, dass auch Strom oder Wasser floss. Zum Glück hat England noch seine Leitungen und Installationen aus viktorianischer Zeit, pflegte Michael zu scherzen. Wenn wir uns auf die EU oder die UN verlassen müssten, würden wir wahrscheinlich mit Eimern rumlaufen und uns gegenseitig die Flöhe aus den Haaren zupfen.
    Eimer.
    Abby stand auf und ging die Treppe hinunter. Hinterm Haus war ein Hof, in dem die Mülleimer standen. Ein halbes Dutzend Satellitenschüsseln starrten auf sie herab, widerrechtlich angeschlossen über Kabel, die wirr durcheinanderhingen.
    Der Grundriss des Wohnblocks bildete ein H, doch die Freiräume zwischen den Flügeln waren im Parterre um Küchenanbauten erweitert worden. Zugebaut. Abby spähte durch eins der Küchenfenster

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