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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Dragovićs Pistole einen blauen Fleck auf ihr Kinn gestempelt hatte. Sie befingerte die Schwellung und winselte vor Schmerzen.
    Ihre Erinnerungen an die Nacht waren noch scharf und roh. Sie nahm sich vor, sorgsam damit umzugehen, wie ein Pathologe mit Gummihandschuhen. Eine Zigarette hätte ihr jetzt gutgetan, aber an der Wand hing ein Rauchverbotsschild, und sie wollte kein Aufsehen erregen.
    Wundern Sie sich eigentlich nicht, dass Sie noch leben?
    Dragović hat selbst keine Ahnung, dachte sie. In der Villa war etwas geschehen, das er sich nicht erklären konnte.
    Sie mochte es kaum glauben. Bis vorgestern war Dragović für sie nichts weiter als ein Schreckgespenst gewesen, um das sich Gerüchte rankten. Jetzt hatte sie Bekanntschaft mit ihm gemacht, mit seinen Bartstoppeln auf der eigenen Haut. Ihre Tasse zitterte auf dem Unterteller.
    Zwei Tote, aber nur eine Leiche.
    Es war noch jemand in der Villa gewesen. Jemand, der den Killer aufgehalten und die Polizei gerufen hatte. Der ihr den Brief an die Adresse von Michaels Schwester und die Textnachricht in der British Library hatte zukommen lassen. Ich kann helfen.
    War darauf Verlass? Bislang hatte niemand geholfen. Sie erinnerte sich an die Gestalt in York, die ihr im Regen nachgelaufen war. In Rom hatte sich nur Dragović blicken lassen. Schöne Hilfe.
    Immerhin konnte sie sich ziemlich sicher sein, dass die Textnachricht nicht von Dragović war. Er hatte so irritiert darauf reagiert wie sie. Außerdem hätte er ihr gewiss kein lateinisches Rätsel per SMS aufgegeben, um an sie heranzukommen.
    Die Lebenden erreicht, wer die Toten navigiert.
    Das Gedicht und das Symbol – was hatten sie zu bedeuten? Das Symbol auf dem Anhänger der Kette und im Stein. Das Gedicht auf dem Stein und im Manuskript. Und wie war Michael an diese Dinge gekommen?
    Michael.
    Ihr Kopf schmerzte. Sie wollte noch einen Kaffee bestellen, entschied sich aber dagegen. Ihre Nerven flatterten ohnehin viel zu heftig.
    Michael. Er war das verlorene Verbindungsglied, die Leere im Zentrum ihrer wirbelnden Gedanken. Er hatte sie in die Villa eines der meistgesuchten Männer des Balkans gebracht. An einen Zufall zu glauben wäre mehr als naiv. Dragović hatte das Gedicht und das Symbol in Stein gemeißelt, Michael besaß beides in Gold und auf Papyrus.
    Und woher hatte er die Kette? Abby erinnerte sich an seine Antwort auf ihre Frage. Von einer Zigeunerin.
    Sie musste zurück. Das, woran Michael interessiert gewesen war, hatte im Kosovo seinen Ausgang genommen. Sie stellte ihre Tasse ab und ging zur Tür.
    Immerhin lebe ich noch, sagte sie sich und versuchte, die Stimme auszublenden, die prompt auf das letzte Wort einen beißenden Akzent legte.
    Noch.

Priština, Kosovo
    Priština liegt ausgestreckt zwischen den Ausläufern einer bewaldeten Hügelkette im Osten und einer permanenten weißen Dampfwolke über den Braunkohlekraftwerken Obelić im Westen: eine Stadt aus tristen Wohnblöcken, hier und da akzentuiert von architektonischen Kaprizen. Hierhin zurückzukehren war für Abby wie der Wechsel in ein altes Kostüm, das ihr nie gefallen hatte. Auf der Rückbank eines Taxis ließ sie sich über die Avenue Bill Clinton chauffieren, an der vergoldeten Statue des ehemaligen Präsidenten vorbei, der mit ausgestrecktem Arm den dichten Verkehr zu dirigieren schien. Er mochte in Amerika angreifbar sein, galt aber im Kosovo als unbesiegbar. An einer Ecke blickten von Reklametafeln NATO-Soldaten herab, um die Bevölkerung daran zu erinnern, dass sie beschützt wurde. Vor dem Parlamentsgebäude flatterten Fotos von Vermissten an einem Zaun. Manche waren so verblichen, dass man nur aus nächster Nähe Spuren einer Aufnahme darauf erkennen konnte; andere schienen erst gestern aufgehängt worden zu sein. Eine Galerie der Gespenster.
    Was ist mit den Hinterbliebenen?, fragte sich Abby. Den Müttern, Frauen und Kindern der Männer (es waren fast ausschließlich Männer)? Würden deren Erinnerungen an sie ebenso verbleichen wie die Fotos und von ihrem Schmerz am Ende nur noch ein weißer Fleck übrig bleiben? Oder wären sie so dauerhaft wie die zur Girlande gewundenen Kunststoffblumen an dem Zaun?
    Ist das auch Michaels Los? Es war unvorstellbar.
    Das Taxi bog links ab und passierte das Hotel, auf dessen Dach eine Replik der Freiheitsstatue stand, dann den Palast der Jugend und das Grand Hotel, das Wahrzeichen des Kosovo schlechthin: vierzig Stockwerke sozialistischer Nostalgie, die Hälfte davon hinter Plakaten

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