Die Geheimnisse der Toten
entgegen, als sie einen Raum betraten, der ausnahmsweise gründlich renoviert worden zu sein schien. Die weißen Fliesen glänzten, und die frischgestrichenen Wände wirkten nach dem Gang durch den dunklen Korridor geradezu schmerzhaft hell. In eine Wand waren eine Reihe von Metallklappen eingelassen, die wie Ofentüren in einer Bäckerei aussahen. Dahinter summte es leise.
Levin streifte sich Latexhandschuhe über, öffnete eine der Klappen und zog eine lange Edelstahltrage daraus hervor. Abby fixierte einen Punkt an der Wand und lenkte ihren Blick dann vorsichtig in Richtung Trage, bis sie sah, was darauflag.
Es war nicht das, was sie erwartet hatte, sondern ein vollständiges Skelett, die ausgestreckten Arme anliegend, der Schädel mit starrem Blick unter die Decke. Die trockenen Knochen hatten die Farbe von Karamell und schienen alt zu sein. Sie sahen eher aus wie ein museales Exponat als wie die Überreste eines Kriegsverbrechens.
«Ist es das, was Michael Ihnen gebracht hat?» Und als Levin nickte, fragte sie weiter: «Hat er gesagt, wie er darangekommen ist?»
«Er wollte einfach nur wissen, was mir dazu einfällt.»
«Und?»
«Die Knochen stammen von einem älteren Mann, der Mitte sechzig bis Mitte siebzig war, als er starb. Eins achtzig groß, kräftig gebaut. Er wurde ermordet.»
Ein kalter Schauer lief Abby über den Rücken. Für einen Moment stellte sie sich vor, dass irgendwo auf einer solchen Trage Michaels Skelett läge und ein Pathologe den Mord an ihm als Aktennotiz vermerkte.
Levin achtete nicht auf sie. Er beugte sich über das Skelett und zeigte auf den Rippenbogen. «Sehen Sie das? Klarer Fall von Gewalteinwirkung mit einem scharfen Gegenstand. Die vierte Rippe ist durchtrennt.» Er steckte den Zeigefinger in die Brusthöhle. «Und im Rücken sieht man, wo die Klinge ausgetreten ist. Er wurde regelrecht aufgespießt.»
«Was bedeutet das?»
«Der Todesstoß zielte wahrscheinlich auf das Herz und erfolgte von vorn, was an der durchtrennten Rippe zu erkennen ist. Die Tatwaffe war offenbar ein langes Messer oder Schwert.»
Sie wunderte sich, warum Levin schmunzelte. «Finden Sie das komisch?»
«Für das Opfer war es bestimmt nicht komisch. Aber wie dem auch sei, wir werden diesen Fall vorerst ruhen lassen.»
«Warum?»
«Weil dieser Mann vor ungefähr siebzehnhundert Jahren starb.»
Levin zog die Handschuhe aus und wusch seine Hände. Als er zu Abby zurückkam, war sein Lächeln verschwunden, seine Miene ausdruckslos.
«Michael hat Ihnen das Skelett eines Mannes gebracht, der seit weit über tausend Jahren tot ist?», vergewisserte sich Abby.
«Ja, und weil ich selbst neugierig war, habe ich an einem der Backenzähne und dem Oberschenkelknochen eine herkömmliche Isotopenanalyse vorgenommen. Der chemischen Markierung nach ist der Mann in der hiesigen Gegend aufgewachsen, hat aber den Rest seines Lebens irgendwo im östlichen Mittelmeerraum verbracht, in Meeresnähe. Er muss reich gewesen sein, denn seine Ernährung war abwechslungsreich.»
Er zeigte auf gräuliche Flecken an den Arm- und Beinknochen, die nicht glatt, sondern rau waren wie die Oberflächen von Korallen. «Das sind sogenannte Geflechtknochen, die sich nach Frakturen bilden. Der Kerl hat offenbar viel Gewalt erlebt, sich aber immer wieder erholt. Bis zu dem Augenblick, da ihm jemand eine Klinge durchs Herz stieß.»
Levin trat vor einen metallenen Aktenschrank und entnahm ihm einen Hefter. Daraus holte er einen kleinen braunen Gegenstand in einer Plastiktüte hervor.
«Das hier gehört zu dem Skelett.» Er nahm den Gegenstand aus der Tüte und legte ihn unter ein Vergrößerungsglas, das auf dem Arbeitstisch stand. «Es handelt sich um eine Gürtelschnalle. Sehen Sie selbst.»
Abby beugte sich über die Linse, konnte aber kaum etwas erkennen, nur ein fleckiges Braun, das wie ein Teppich aus Herbstlaub aussah. Sie bewegte das Glas auf und ab, bis sie ein scharfes Bild vor Augen hatte. In den Grund des Gegenstandes waren Buchstaben eingeritzt, verkrustet und unvollständig, aber noch leserlich.
«LEG IIII FELIX.»
«Das ist der Name einer römischen Legion», erklärte Levin. «Legio vier, die glückliche.» Er registrierte Abbys Verwunderung. «Ich habe im Internet recherchiert. Offenbar war sie im heutigen Belgrad stationiert, also nicht weit von hier. Unter dem Namen sehen Sie das Wappen der Legion.»
Abby schaute genauer hin. Das Zeichen war von Rost verunstaltet, trotzdem erkannte sie einen schlanken Löwen
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