Die Geheimnisse der Toten
gegangen zu sein, allein und ohne dass er sich hätte verabschieden lassen.
Dann sollte ich mich wohl auch nach Hause begeben. Mir ist schleierhaft, warum Konstantin mich hierhaben wollte. Den Abend hätte ich sinnvoller verbringen können. Als ich auf den Ausgang zugehe, stellt sich mir ein Palasteunuch in den Weg. Wortlos deutet er auf eine Seitentür, die kunstvoll zwischen zwei Säulen verborgen ist. Ich folge ihm. Zwei Dutzend eifersüchtige Augenpaare sehen mich dahinter verschwinden.
Der Saal war voller Rauch und Gerüche und überhitzt. Umso wohltuender ist die Nachtluft. Der Eunuch führt mich über einen leeren Hof, durch einen Mauerbogen und einen Säulengang auf eine Tür zu. Lampen in Metallhalterungen brennen an den Wänden. Wachen der Schola stehen stramm, gespenstisch in ihren weißen Uniformen. Der Eunuch klopft an, scheint im Unterschied zu mir etwas zu hören und fordert mich auf einzutreten.
Ich rechnete natürlich damit, auf Konstantin zu treffen, doch stattdessen empfängt mich seine Schwester Constantiana, die in einem Korbsessel sitzt und wie eine alte Frau eine Decke um die Schultern geschlungen hat. Offenbar befinde ich mich in einer Art Ankleidezimmer: Über den Möbeln liegen Kleidungsstücke verstreut, in einer Ecke steht ein Paar roter Schuhe. Zwei Sklavenmädchen knien neben Constantiana und entfernen die dicke Schminke von ihrem Gesicht, wie Handwerker, die eine Statue restaurieren.
«Wie ich höre, hat dir der Augustus einen neuen Auftrag erteilt», sagt sie ohne ein Wort des Grußes. Sie nennt ihren Bruder nie beim Namen, sondern immer nur «der Augustus». «Mich wundert, dass er immer noch Verwendung für dich findet.»
Sie betrachtet sich in einem Silberspiegel, der vor ihr auf einem Frisiertisch steht. Obwohl sie Konstantins Halbschwester ist, hat sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Ihr Gesicht ist in die Länge gezogen, oval und flach. Früher galt sie als schön, zumindest unter den Männern, die Ausdruckslosigkeit bevorzugen. Ihre Haare sind kunstvoll geflochten, aufgetürmt und mit einem Reif aus Elfenbein festgesteckt. Für eine Frau ihres Alters ein bisschen zu jugendlich.
Ich glaube nicht, dass sie auf ihren Kommentar eine Antwort erwartet, und schweige deshalb.
«Wie man mir sagte, will der Augustus, dass du jetzt Mördern nachstellst», fährt sie fort. «Muss eine willkommene Abwechslung sein für jemanden, der selbst mordet.»
Ich verbeuge mich und fokussiere meinen Blick auf ein Gemälde an der Wand in ihrem Rücken. Die drei Grazien: Freude, Anmut und die Glänzende. Eine einsame Hoffnung in diesem Raum.
«Ich gehorche dem Augustus in jeder Hinsicht. Immer.»
Beim Abtragen der Schminke geht eine der Sklavinnen offenbar nicht vorsichtig genug vor. Constantiana winselt. Ein roter Fleck zeigt sich auf der gebleichten Wange. Ohne sich umzudrehen, schlägt sie über die Schulter dem Mädchen ins Gesicht.
«Ich sah dich gestern mit Eusebius von Nikomedia in der Kirche», sage ich.
Keine Reaktion. Warum sollte sie sich mir gegenüber rechtfertigen?
«Er profitiert von Bischof Alexanders Tod», füge ich hinzu.
«Er profitiert immer, denn er ist ein außergewöhnlicher Mann, dem eine glänzende Zukunft bevorsteht.»
«Es sei denn, er wird des Mordes angeklagt.»
«Das wirst du nicht wagen.»
Ich denke an die Wachen vor der Tür. Gesetzt den Fall, ich erführe etwas, das ihr nicht gefiele, würde ich dann mit dem Leben davonkommen?
«Konstantin bittet mich, die Wahrheit herauszufinden, auch wenn sie unliebsam sein sollte.»
Ich mustere wieder die drei Grazien. Der Künstler hat eine seltsame Wahl getroffen. Die Glänzende ist eine ältere Frau mit langen, silbernen Haaren und einem Gesicht, das zu zerbrechen droht, falls es jemals lächeln sollte. Die Freude hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Frau, die vor mir sitzt; sie ist ein bisschen jünger und verrät mit ihrem Blick, dass sie sich selbst für die größte Freude hält. Die Anmut ist die Einzige, die ihrer Bedeutung gerecht wird. Allerdings wurde ihr Gesicht stümperhaft verändert mit dem Ergebnis, dass der Kopf zur Seite verrutscht ist, als wäre der Hals gebrochen.
Constantiana bemerkt, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin. «Hörst du mir überhaupt zu?»
«Verzeihung», sage ich. «Ich musste gerade an deine Hochzeit denken.»
Mailand – Februar 313, fünfundzwanzig Jahre zuvor
Die veröffentlichte Erklärung beginnt folgendermaßen:
Als ich, Konstantin Augustus, und ich,
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