Die Geheimnisse der Toten
Lager. Auf sie sind die anderen Liegen an den Seitenwänden ausgerichtet, ähnlich den beiden geraden Laufstrecken des Hippodroms. Hier entscheidet sich auch ein Rennen: Wer dem Herrscherpaar am nächsten kommt, hat gewonnen. Konstantin lädt sonst nie zu einem Gastmahl ein. Er ist kein Freund von Rangordnungen und nimmt sich die Enttäuschung derer zu Herzen, die weiter hinten Platz nehmen müssen. Als Pragmatiker hingegen weiß er den Wert ihrer Verunsicherung zu schätzen. Wer seinen Status nicht kennt, bewegt sich vorsichtiger.
Ich nehme den mir zugewiesenen Platz ein, das vorletzte Liegepolster auf der linken Seite, das ich mir mit drei anderen Gästen teile: einem hageren Kanzleibediensteten, der sein Essen herunterschlingt, als habe er seit Tagen nichts zu sich genommen, einem Senator aus Bithynien und einem Getreidehändler, der nur in Scheffeln denkt. Während er über eine Pest in Ägypten und eine mögliche Nilflut in diesem Jahr plappert, schaue ich mich in der Runde um. Eusebius ist da, nahe dem Herrscherpaar und tief im Gespräch mit Flavius Ursus. Ich frage mich, was ein Bischof und ein Soldat miteinander zu bereden haben.
«Der Preis ist im letzten Monat wieder um fünf Dinare gestiegen.» Der Händler beißt in einen gegrillten Siebenschläfer. Ein Saft aus Fett und Blut tropft ihm vom Kinn. «Ist doch seltsam, oder? Normalerweise fallen die Preise im Frühjahr, wenn die Meere offen sind und die ersten Getreidelieferungen eintreffen.» Er kichert, als hätte er uns ein Rätsel aufgegeben, an dem sich sogar Daidalos die Zähne ausbeißen würde. «Auguren und Zauberer lesen aus den Eingeweiden toter Tiere oder dem Flug der Vögel die Zukunft. Mir geben die Getreidepreise darüber Aufschluss.»
Ich rede ihm nach dem Mund, weil das die weniger schmerzliche Option ist. «Und was siehst du vorher?»
«Ist doch klar, oder?» Er sieht mich an, als wäre ich ein Kind. «Ärger.»
Die Gerichte sind verzehrt. Sklaven räumen das Geschirr fort. Die Gäste stehen auf und schlendern umeinander. Von mir offenbar genauso gelangweilt wie ich von ihm, verzieht sich der Händler zur anderen Seite des Saals. Ich dränge nach vorn, um Konstantin auf mich aufmerksam zu machen, gerate aber auf halbem Weg in einen Kreis von Männern, die, obwohl gerade noch in angeregter Unterhaltung, verstummen, als sie mich sehen.
«Gaius Valerius Maximus», sagt Eusebius, der in seiner mit Goldborten abgesetzten Toga nicht weniger prunkvoll aussieht als Konstantin. Wieder betont er den letzten Teil meines Namens, um ihn ins Lächerliche zu ziehen. «Hast du die Wahrheit schon herausgefunden?»
«Ich warte darauf, von jemandem erleuchtet zu werden.»
«Einer unserer Brüder in Christo wurde mit einer Büste des Philosophen Hierocles erschlagen», erklärt Eusebius für die anderen. «Gleich hinter ihm saß ein berüchtigter Christenverfolger. Der Kaiser hat Gaius Valerius Maximus beauftragt, den Mörder zu stellen.»
Die Männer ringsum nicken bedächtig. Interessante Gesellschaft für einen Bischof: der Präfekt von Konstantinopel; der Präfekt der Verpflegungsmagazine, zuständig für die Brotrationierung; zwei Generäle, deren Gesichter mir vertrauter sind als ihre Namen; und Flavius Ursus, der Marschall der Armee. Dass wir uns erst gestern getroffen haben, lässt er sich nicht anmerken.
Eusebius entschwindet, um sich mit zwei Senatoren zu unterhalten. Ich lasse mich auf ein Gespräch mit Ursus und den Generälen ein, die sich Gedanken machen über die Vorbereitungen für den Persienfeldzug, ihre Erfolgsaussichten und die Frage, ob sie Ctesiphon noch im Herbst erreichen können. Genauso wie eh und je.
Aber irgendetwas ist anders. Diese Männer sind auf der Höhe ihrer Macht – sie müssten eigentlich vor Selbstbewusstsein strotzen. Stattdessen aber machen sie einen verkrampften und zaghaften Eindruck. Auch wenn sie das Wort an mich richten, wandern ihre Blicke unruhig hin und her. Zuerst glaube ich, sie langweilen sich. Aber sie suchen nicht nach Ablenkung, sondern wollen alles im Auge behalten. Wer streift wessen Arm? Wer lächelt, wer legt die Stirn in Falten, wer nickt zustimmend? Wer scherzt, wer lacht?
Die mächtigsten Männer des Imperiums sind steif vor Angst. Der Kaiser ist ein Koloss: Wenn er fällt, wird alles in Scherben zerfallen.
Es wird leerer im Saal. Einer nach dem anderen bricht unter irgendeinem Vorwand auf. Das war früher nicht so. Ich nähere mich der Apsis, aber Konstantin scheint auch schon
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