Die Geheimnisse der Toten
zu schützen. Aber er ließ mich abblitzen und sagte, ich solle schleunigst in meine Unterkunft zurückkehren, es sei zu gefährlich da draußen.» Abby merkte, dass ihre Stimme lauter geworden war und vor Erregung zitterte. «Seine Männer waren gut ausgebildet und bis an die Zähne bewaffnet, die Milizionäre dagegen hatten nur Macheten und Kokain, um sich Mut zu machen. Sie zu verjagen hätte keine fünf Minuten gedauert. Aber die UN-Truppen rührten keinen Finger und lieferten die Dorfbewohner ihrem Schicksal aus. Es waren vor allem Frauen und Kinder, denn die meisten Männer arbeiteten in den Minen. Ich konnte nur ihre Schreie hören.»
«Lassen Sie mich raten», sagte Levin. «Der Vorfall wurde nicht zur Kenntnis genommen.»
«Doch, aber er wurde abgetan als Episode eines wirtschaftlichen Konflikts. Die Metalle aus diesem Teil der Welt gehen offenbar überwiegend in die Produktion von Mobiltelefonen. Vielleicht hatte man die Südkoreaner aufgefordert zu unterlassen, was die Lieferung behindern könnte.» Sie zuckte mit den Schultern. «Am Ende hört man immer nur Gründe, warum man sich nicht einmischen durfte. Und für Nichteinmischung gibt es Millionen Gründe. Es muss ja nicht gleich Bestechlichkeit, Feigheit oder Fehlverhalten sein. Man bleibt einfach im Bett und hat die Tür abgeschlossen. Wer sich einmal so entschieden hat …»
«… verfällt immer wieder darauf», ergänzte Levin. «Ich weiß.»
Er bog rechts ab. Abby blickte in den Rückspiegel, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte.
«Wie haben Sie es geschafft?», fragte sie. «Durchzuhalten, meine ich. Es gibt so viel Schlechtigkeit in der Welt, dass man dagegen einfach nicht ankommt. Macht das nicht zwangsläufig mutlos?»
Levin starrte auf die Straße und antwortete nicht.
«Raus mit der Sprache», drängte sie. «Ich habe Ihnen meine Geschichte auch erzählt.»
«Ich habe keine Geschichte.»
«Ein Geheimnis vielleicht.»
«Auch das nicht. Ich vermute, es ist …» Er fuhr rechts ran, um einen Krankenwagen vorbeizulassen. «Wenn man die Toten nicht begräbt, spuken sie weiter herum.»
«Sprechen wir jetzt von Gespenstern?»
Sie hatte zu scherzen versucht, doch zu ihrer Überraschung antwortete Levin sehr ernst.
«Nicht von denen, die zu Halloween in weißen Bettlaken herumgeistern. Aber Sie würden mir doch zustimmen: Sobald etwas in Ihrem Bewusstsein existiert, ist es durchaus real, oder?»
Er runzelte die Stirn und schien mit seiner Formulierung selbst nicht einverstanden zu sein. «Wenn wir die Toten nicht anständig bestatten, mit Anstand und Würde, setzen sie uns unablässig zu. Sie brauchen nur einen Blick in die Geschichte zu werfen. Wir sind die erste große Zivilisation, die sich mit ihren Toten schwertut. Sie stellen uns unter anderem vor ein logistisches Problem. Wir müssen sie möglichst platzsparend unter die Erde bringen. Grund und Boden sind schließlich teuer. Außerdem existiert eine Person nicht bloß im eigenen Körper. Ein Teil von ihr steckt auch in jedem, der sie kennt. Und es sind ebendiese Teile, die uns nachstellen, wenn wir unsere Toten nicht anständig bestatten.» Er lachte leise. «Sie halten mich vielleicht für beschwipst. Kurze Antwort: Wenn Sie so viel mit Leichen zu tun haben wie ich, ist Ihnen klar, dass Sie Ihre Arbeit nie zum Abschluss bringen werden. Wahrscheinlich halte ich deshalb durch.»
Die Abteilung für forensische Medizin war in einem der zahlreichen gedrungenen braunen Gebäude untergebracht, aus denen das großflächig angelegte Krankenhaus bestand. Abby stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Ihr altes Büro im EULEX-Hauptquartier lag weiter unten an der Straße gegenüber einem lichten Wäldchen. Die Nähe machte sie nervös, obwohl Sonntag war. Als zwei Ärzte in weißen Kitteln näher kamen, wandte sie sich ab, was Levin bemerkte, aber nicht kommentierte.
Er führte sie durch ein Treppenhaus ins Kellergeschoss. Ihr Magen krampfte sich zusammen angesichts der blätternden Farbe und gesprungenen Kacheln, was ihr alles so vertraut war wie die Gerüche von Nikotin und Desinfektionsmitteln. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Atem, als sie daran dachte, wie sie in Podgorica aufgewacht war. Irgendwo aus den Tiefen des Krankenhauses war das Piepen eines Herzmonitors zu hören. Es klang wie tropfendes Wasser. Oder spielte ihr die Phantasie einen Streich?
Sobald etwas in Ihrem Bewusstsein existiert …
Levin öffnete eine schwere Stahltür. Ein Schwall von Chlorgeruch schlug ihr
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