Die Geheimnisse der Toten
kleinen Mahagonitisch. «Waren Sie schon bei der Polizei?»
«Da will ich noch hin.» Levin zu belügen war ihr, als fluchte sie in der Kirche. Sie kannte ihn eigentlich nur vom Hörensagen, aber man hörte viel über ihn. Kambodscha, Haiti, Bosnien, Ruanda, Irak – wo immer Leichen in unvorstellbarer Zahl verscharrt lagen, war Levin mit einer Schaufel zur Stelle, um die Verbrechen aufzudecken und den Opfern eine menschenwürdige Beisetzung zu ermöglichen.
«Was hat Michael von Ihnen gewollt?»
«Wir haben uns in Bosnien angefreundet. Das war ’98. Es gab da einen Großgrundbesitzer, der nicht zulassen wollte, dass wir auf seinem Land Nachforschungen anstellten, obwohl wir dort ein Massengrab vermuteten. Michael kam und machte uns den Weg frei. In der Folgezeit begegneten wir uns immer wieder, an unterschiedlichen Orten und rein zufällig. Sie wissen ja, wie klein die Welt ist.»
«Und was wollte er, als Sie sich das letzte Mal getroffen haben?»
Levin verriet Unbehagen. «Abby, ich weiß, es muss schrecklich für Sie sein, aber ich kann Ihnen nur raten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen.»
«Die glaubt, ich sei in die Sache verwickelt. Aber ich habe nichts damit zu tun», sagte sie rasch. «Auf mich ist geschossen worden, und das war’s.» Ein Gedanke fuhr ihr durch den Kopf. «Sind Sie von der Polizei vernommen worden?»
«Sie hatte nur ein paar Fragen. Ich habe Michael als einen anständigen Kerl beschrieben, aber viel wusste ich nicht über ihn.»
«Trotzdem hat er Sie kurz vor seinem Tod aufgesucht.» Wie oft muss ich das noch sagen? «Ich will dahinterkommen, weshalb er sterben musste, und dachte, Sie könnten mir weiterhelfen.»
Levin hatte durch das Fenster nach draußen geblickt und schaute sie nun aus traurigen, mitfühlenden Augen an.
«Michael hat mich in meinem Labor aufgesucht. Er sagte, er brauche meinen Rat. Professionellen Rat.»
Abby wusste um Levins berufliche Interessen. «Ging es um eine Leiche?»
«Darüber darf ich nicht reden.»
«Um Himmels willen», bettelte sie. «Sie sind hier doch zuständig für Opferidentifizierung, dafür, offene Fragen zu beantworten. Wahrscheinlich kommen tagtäglich Witwen und Waisen zu Ihnen, die das gleiche Anliegen haben wie ich. Stellen Sie sich einfach vor, ich wäre eine von ihnen.»
«Es gibt gewisse Kanäle», murmelte Levin, mehr zu sich selbst als an Abby gerichtet. Er rührte in seinem Tee, stand dann auf und schien sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben.
«Ich zeige es Ihnen. Das ist einfacher.»
Er fuhr mit ihr quer durch die Stadt in Richtung Krankenhaus. Inzwischen herrschte dichterer Verkehr auf den Straßen.
«Sie werden sich wahrscheinlich nicht erinnern, aber ich war zur gleichen Zeit wie Sie im Irak. In Al-Mahawil», sagte sie wie ein schüchternes Mädchen. «Wir sind uns ein paarmal begegnet.»
«Ich erinnere mich. Sie waren in dem Team, das sich mit Kriegsverbrechen befasst. Ich habe nur Gutes von Ihnen gehört. Jetzt arbeiten Sie für EULEX. Warum?»
Es war nicht das erste Mal, dass ihr diese Frage gestellt wurde. Sie hatte verschiedene Antworten darauf parat. Neue Herausforderung, Zeit für Veränderung, interessante Möglichkeiten. Aber das würde ihr Levin wahrscheinlich nicht abkaufen, und mit solchen Plattitüden wollte sie ihn nicht beleidigen.
«Es wurde mir zu viel.»
«Im Irak?»
Sie schüttelte den Kopf. «Damit bin ich klargekommen. Es war ein Desaster von so unglaublichen Ausmaßen, dass man für das, was passiert ist, niemandem die Schuld geben konnte. Ich meine, niemandem, der vor Ort war. Und dass Politiker Mist bauen, ist ja hinreichend bekannt.»
Er wartete darauf, dass sie mehr sagte, und es wunderte sie selbst, ebendiesen Wunsch zu verspüren. Es tat gut, mit ihm zu sprechen.
«Nein, im Kongo wurde es mir zu viel», fuhr sie leise fort. Sie starrte aus dem Fenster auf den dreieckigen Turm von Radio Kosovo, der sich über dem Park erhob, durch den sonntags junge Kosovaren, hübsch ausstaffiert, spazieren gingen. «In einem Dorf namens Kibala. Ich war in jener Nacht dort, als Hutu-Milizionäre angriffen. Der Ort liegt in einem Bergbaugebiet, in dem seltene Metalle geschürft werden. Die Milizionäre wollten die Fördermengen selbst vermarkten beziehungsweise von den Dorfbewohnern abkassieren.»
Levin nickte.
«Die UN wusste von der Gefahr. Sie schickte ein Bataillon Südkoreaner, die die Lage im Auge behalten sollten. Ich fuhr in deren Lager und bat den Kommandanten, das Dorf
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