Die Geheimnisse der Toten
mit den Proportionen eines Windhundes und einer Mähne aus Dreadlocks, die von den Schultern herabhingen.
«Die Jungs von der NATO sind nicht die ersten Truppen, die diesen Teil der Welt besetzen», sagte Levin. «Ich schätze, dieser Bursche hier hatte letztlich kein Glück.»
Abby erinnerte sich an seine Diagnose. «Sie sagten, er sei ermordet worden. Aber wenn er Soldat war und mit einem Schwert gekämpft hat, kann er doch auch im Feld gefallen sein.»
«Natürlich. Aber dass ein Mann von über sechzig Jahren in die Schlacht zieht, dürfte auch damals ziemlich ungewöhnlich gewesen sein. Außerdem lassen die Wundspuren darauf schließen, dass er keine Rüstung trug. Aber alles, was ich sage, ist nur eine Vermutung.»
Sie blickte von der Schnalle auf und schaute wieder auf das Skelett auf der Trage. Schwarze Augenhöhlen starrten ihr entgegen. Ein Kratzer auf dem Stirnbein ließ den Schädel nachdenklich erscheinen, als sei der Tote gerade aus der Dunkelheit geholt worden und blinzele sie an.
Wer warst du? , fragte sie im Stillen.
Wer bist du? , schien der Schädel zu erwidern.
«Hat Michael gesagt, wo er das Skelett gefunden hat?»
«Angeblich oben im Norden, nahe der serbischen Grenze. Banditenland. Ich habe mir die Frage verkniffen, warum er dort Indiana Jones spielte. Jedenfalls hatte er Schutz, denn er kam in einem Landcruiser der US-Army. Ein amerikanischer Soldat half ihm, die Knochen zu tragen.»
«Wissen Sie seinen Namen?»
«Ja, ich habe seine Unterschrift. Michael ließ ihn das Formular ausfüllen. Er sagte, es sei besser, wenn sein Name nicht auftaucht.» Levin blätterte durch den Hefter. «Hier – Specialist Anthony Sanchez, 957th LMT.»
«Haben Sie eine Ahnung, wo ich ihn finden könnte?»
«Soweit ich weiß, sind die Amerikaner zurzeit in Camp Bondsteel, das ist bei Ferizaj.» Er ahnte wohl, was sie dachte. «Haben Sie ein gelbes Abzeichen?»
Ein solches Abzeichen war nötig, um Stützpunkte der KFOR betreten zu können, was nur einer begrenzten Gruppe von NATO-Angehörigen gestattet war. Aber Michael hatte es getragen, aus welchen Gründen auch immer. Er war immer wieder zu einem der Stützpunkte gefahren, um in den PX-Geschäften zollfreie Zigaretten und Alkohol zu kaufen. Gehört sich das für einen Mitarbeiter der Zollbehörde? , hatte sie gefragt. Michael hatte nur gelacht.
«Haben Sie der Polizei davon berichtet? Nach Michaels Tod?»
«Ich habe ihnen das Skelett gezeigt für den Fall, dass sein Tod irgendetwas damit zu tun hat. Als sie erfuhren, wie alt die Knochen sind, waren sie nicht mehr interessiert und meinten, ich solle sie der Vermisstenstelle zuschicken. Den Namen Sanchez habe ich ihnen gegenüber nicht erwähnt. Ich wollte ihn nicht mit reinziehen.»
Die Klinikgerüche im geschlossenen Kellerraum machten Abby schwindelig. Es drängte sie zurück an die frische Luft.
«Vielen Dank für alles, Dr. Levin. Ich hoffe, Sie nicht in Schwierigkeiten gebracht zu haben.»
«Keine Sorge. Sehen Sie nur zu, dass Sie nicht hier auf meinem Tisch landen. Die Polizei hat, als sie hier war, gewisse Andeutungen gemacht …»
«Nämlich?»
«Das wollen Sie nicht wirklich wissen.»
«Ich muss es wissen.»
«Verstehe.» Levin steckte den Hefter zurück in den Aktenschrank. «Sie haben diesen Blick. Er kommt mir immer häufiger zu Gesicht.»
«Was soll das heißen?»
«Der Blick derer, die Gespenster jagen.»
Levin schob die Trage mit beiden Händen zurück in das stählerne Mausoleum und ließ die Klappe zuschlagen.
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20
Konstantinopel – April 337
Nach Hause zurückgekehrt, finde ich eine Nachricht vor. Komm heute Abend zum Essen in den Palast. Ob das eine Einladung oder ein Befehl ist, weiß ich nicht zu unterscheiden. Ich werde mich jedenfalls nicht weigern. Meine Sklaven holen meine Toga aus der Mottenkiste, wo sie lange gelegen hat, und bürsten sie mit Kalk aus, um die Flecken zu entfernen. Es dauert eine Stunde, mich einzukleiden und den Faltenwurf zu richten. Die Sklaven zupfen hier und da und fluchen, weil sie aus der Übung sind. Mein Leibdiener findet, dass ich großartig aussehe, wie in alten Zeiten. Er klingt wehmütig.
Der Saal der Neunzehn Liegen befindet sich gleich neben dem Hippodrom. Vor dem Eingang steht eine überlebensgroße Statue von Konstantin und seinen drei Söhnen, die den ganzen Saal überblicken. In der Apsis ruhen Konstantin und seine Halbschwester Constantiana wie ein inzestuöses ägyptisches Götterpaar auf prominentem
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