Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
quietschenden Reifen des Taxis übertönt. Vor ihnen ragte eine kunstvoll geschmiedete Straßenlaterne auf. Ein Knall ertönte, und der Boden des Taxis schwankte, als versuche jemand, ihn in zwei Hälften zu zerbrechen. Durch die Lücke, wo die Windschutzscheibe gewesen war, konnte Avi sehen, wie die Straße zur Seite kippte. Die blauen Flammen, die Kellen, wie vorhin im Krankenhaus, hervorgebracht hatte, verloschen. Ein grässliches, langgezogenes Knirschen war zu hören, gefolgt von einer Reihe gewaltiger Stöße. Kurz schien Avi schwerelos in der Luft zu schweben, und er merkte, wie er aus dem offenen Dach herausgeschleudert wurde. Dann spürte er einen beißend kalten starken Wind, und der Boden traf ihn wie ein gewaltiger Hammer. Die Welt wurde schwarz.
Als er wieder zu sich kam, lag der Wagen auf der Seite, dicht an einer Mauer. Die Reifenspuren auf der Straße verrieten, dass das Taxi zuerst mit dem hohen Bordstein in Konflikt geraten und dann über den breiten Gehweg geschlittert war. Die Mauer hatte es gestoppt. Avi fragte sich, was sich wohl auf der anderen Seite dieser Wand befand.
Keuchend rappelte er sich vom Asphalt auf und taumelte zum Taxi hinüber. Auf halbem Wege stellte er fest, dass der Gipsverband an seinem rechten Bein fehlte, schaute sich um und sah weiße Scherben auf der Straße liegen. Mit seinem Bein schien alles in Ordnung zu sein. Abgesehen von ein paar frischen Kratzern war er offenbar wieder völlig genesen.
Ich habe einen Zusammenstoß mit einer U-Bahn überstanden. Was ist da schon ein kleiner Autounfall?
Auf dem Rücksitz des Taxis war das Mädchen zur Seite gesackt und zerrte am Sicherheitsgurt. Sie stöhnte und war kreidebleich im Gesicht.
»Bist du verletzt?«, fragte Avi. »Kannst du dich bewegen?«
Der Sicherheitsgurt öffnete sich mit einem Klicken, und das Mädchen kroch auf allen vieren durch das Loch im Dach. »Ich glaube, mir geht es gut. Was ist mit dem Fahrer. Ist er …?«
Ihre Stimme erstarb. Durin lag über dem vorderen Kotflügel des Taxis. Seine Beine sahen aus, als hätten sie zu viele Gelenke. Ein weißer Knochen ragte aus einer Wunde am Kopf, und dunkelrotes Blut quoll ihm aus Mund und Nase.
Avi hastete zu ihm. Durins kühle graue Augen blickten ihm entgegen. Er nahm Durins Kopf, der in unbequemer Haltung über dem zischenden Kühlergrill hing.
»Gut … dass du dich wieder erinnert hast«, stieß Durin wegen des Bluts in seinem Mund mühsam hervor.
»Woran erinnert?«
»Goblins mögen kein Wasser.«
Ein Goblin!
Avi überlegte, was er zu diesem Mann sagen sollte, den er kaum kannte und der ihm doch das Leben gerettet hatte.
Aber du kennst ihn, meldete sich da eine innere Stimme.
Doch noch ehe Avi etwas eingefallen war, schloss sich Durins Hand fest um sein Handgelenk. Trotz seiner Verletzungen hatte er einen kräftigen Griff. »Bleib hier«, stöhnte er. »Ganz gleich, was passiert, du musst … in dieser Welt bleiben. Kellen will dich haben, aber … bis das Orakel dir nicht die Erlaubnis gibt, darfst du nicht zurück in das Reich des … des …«
Durins Blick verschleierte sich, und seine Hand wurde schlaff. Sein Blut floss nicht mehr, sondern begann zu gerinnen.
»Welches Reich?«, drängte Avi und packte Durins Hand. »Wohin soll ich zurückkehren?«
Durins Blick huschte wild umher, bevor er sich schließlich wieder auf Avi richtete. »Nach Hause.«
Dann holte er tief Luft, und sein ganzer Körper in den Kleidern, die ein wenig zu klein für ihn wirkten, spannte sich an. Avi spürte eine gewaltige Stärke und dachte an die steinernen Löwen, die er auf dem Platz gesehen hatte. Dieser Mann war wie die Löwen – ein unbesiegbarer Geist.
Und dennoch starb er.
Aber es war noch nicht vorbei. Durin nahm seine letzte Kraft zusammen und hob den Kopf. »Roosevelt«, sagte er. »Er übernimmt jetzt meine Pflichten. Such ihn, Avi, und erzähle ihm … was geschehen ist. Er wird dir helfen. Er … weiß, was zu tun ist.«
Durin wurde zusehends schwächer. Sein Körper erschlaffte, und sein Blick wurde leer.
»Warte«, flehte Avi. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er umklammerte Durins Hand, um dem Mann, der ihn vor Kellens Klauen gerettet hatte, Leben einzuflößen. »Ist dieser Roosevelt ein Wächter wie du?«
»Nicht wie ich«, murmelte Durin mit einem schwachen Lächeln. »Aber … er ist alles … was wir haben.«
»Und wo ist er? Wie kann ich ihn finden?«
Durins Stimme war nur noch ein Flüstern. »Savoy.«
»Savoy? Was
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