Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
festgesetzt. Seine Stirn pochte, als hätte er zu viel Eis gegessen, und er spürte, wie sein Herz immer langsamer schlug, wie die Schläge schwächer wurden und unregelmäßig.
Er hatte sich auf den Rücken gerollt und obwohl sein Blick getrübt war, sah er doch das unwahrscheinlich leuchtende Blau des Himmels und neben sich das grellgrüne Gras.
Es gibt schlimmere Arten zu sterben, sagte er sich.
Er hatte in vielen gefährlichen Zeiten ein turbulentes Leben geführt. Er hatte Kriege überlebt, Seuchen, Hofintrigen und Verrat über Verrat. Er hatte die Welt bereist, war in sämtlichen Ländern gewesen – außer in Dänemark, das er immer gern besucht hätte – und hatte innerhalb des großen Netzwerkes viele Schattenreiche erkundet.
Er hatte Vermögen gemacht und wieder verloren und war so ziemlich jedem Herrscher, Erfinder, Held und Bösewicht auf diesem Planeten begegnet. Er hatte Könige und Königinnen beraten, Kriege angezettelt und Friedensverträge ausgehandelt und er hatte zu der Handvoll Menschen gehört, die die Menschheit in Richtung Zivilisation geschubst und gedrängt hatten. Er hatte die Welt geformt, zunächst im Elisabethanischen Zeitalter und dann bis hinein ins einundzwanzigste Jahrhundert. Darauf konnte er zu Recht stolz sein.
Fast fünfhundert Jahre hatte er im Schattenreich Erde gelebt und mindestens genauso lang in einigen anderen Schattenreichen. Allzu viel zu jammern gab es also nicht. Aber er hatte immer noch so viel vorgehabt, wollte noch so viele Orte besuchen, so viele Welten erforschen.
Er versuchte die Arme zu heben, hatte jedoch kein Gefühl mehr darin. Auch seine Beine waren taub und die Sehkraft nahm immer weiter ab. Seine Gebieter des Älteren Geschlechts hatten zwar seinen Körper altern lassen, doch sein Verstand war so klar wie immer. Vielleicht war das die größte Grausamkeit. Sie hatten ihn bei vollem Verstand in dieser nutzlosen Körperhülle zurückgelassen. Plötzlich musste er an Mars Ultor denken, der jahrtausendelang tief unter den Straßen von Paris in seiner gehärteten Aura gefangen war, mit erstarrtem Körper, aber regem Verstand. Und zum ersten Mal seit Jahrhunderten empfand der dunkle Magier das für ihn fremde Gefühl des Mitleids.
Dee fragte sich, wie lange er wohl noch am Leben bliebe.
Es würde Nacht werden, und er befand sich auf Danu Talis, einer Welt, in der auf der Erde längst ausgestorbene Kreaturen lebten und Monster aus unzähligen anderen Schattenreichen frei herumliefen.
Er wollte nicht von einem Monster gefressen werden.
Wenn er sich seinen Tod vorgestellt hatte – und das hatte er angesichts seiner Aktivitäten und der unberechenbaren Launen seiner Auftraggeber oft –, hatte er immer auf einen glorreichen Abgang gehofft. Auf ein bedeutsames Ende. Es hatte ihn immer geärgert, dass seine Arbeit größtenteils im Verborgenen stattfand und die Welt nichts von seiner Genialität wusste. Während des Elisabethanischen Zeitalters war sein Name in aller Munde. Die Königin selbst hatte ihn gefürchtet und respektiert. Doch nachdem er unsterblich geworden war, war er untergetaucht und hatte seither ein Schattendasein geführt.
Besonders bedeutsam war es nicht, verschrumpelt und steinalt auf einem Hügel auf Danu Talis zu liegen.
Da hörte er ein dumpfes Pochen. Ganz in der Nähe. Rechts von ihm.
Dee versuchte den Kopf zu drehen, konnte sich aber nicht mehr bewegen.
Er sah einen Schatten.
Ein Ungeheuer, das ihn fressen wollte.
Dann war das also sein Schicksal: lebendig, allein und ohne Freunde gefressen zu werden …
Er versuchte, seine Aura zu aktivieren. Wenn es ihm gelang, genügend Aura-Energie zu sammeln, konnte er das Ungeheuer vielleicht in die Flucht schlagen. Oder bei dem Versuch verkohlen wie eine Grillwurst. Was vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Wenigstens käme er dann ums Gefressenwerden herum.
Der Schatten kam näher.
Aber warum wollte er ihn überhaupt in die Flucht schlagen? Er würde ja doch zurückkommen. Es wäre lediglich ein Hinauszögern des Unausweichlichen. Besser, er ergab sich seinem Schicksal, rief sich noch einmal all das Gute, das er in seinem langen Leben getan hatte, in die Erinnerung zurück … aber so viel gab es davon gar nicht.
Der Schatten wurde dunkler.
Jetzt, da sein Ende bevorstand, überkamen ihn alte Ängste und fast vergessene Zweifel. Eine Liedzeile fiel ihm ein: »Es ist nicht viel, was ich bereu’n muss …« Na ja, bei ihm war es schon ein bisschen mehr. Er hätte seinen Kindern
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