Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)

Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Scott
Vom Netzwerk:
dichter, wuchs und fiel ihr bald über die Schultern. Sie öffnete und schloss die Fäuste, wackelte mit den Fingern und ließ die Hände aus dem Handgelenk heraus kreisen. Sie stemmte sie in die Hüften und drehte den Oberkörper nach rechts und links. Dann beugte sie sich mit durchgestreckten Knien nach vorn und berührte mit den Handflächen den Boden.
    Vor dem Spiegel schaute Tsagaglalal zu, wie das Alter von ihr abfiel und sie wieder jung und schön wurde. Sie hatte ganz vergessen, wie es war, jung zu sein, und schön war sie schon lange nicht mehr gewesen. Am Tag, als Danu Talis unterging, also vor zehntausend Jahren, hatte sie das letzte Mal ausgesehen wie heute.
    Und falls die Welt heute unterging, wollte sie die letzten Stunden ihres Lebens auf keinen Fall als alte Frau verbringen.
    Tsagaglalal ging den Flur hinunter zu dem winzigen Gästezimmer auf der Rückseite des Hauses in der Scott Street. Ihr Schritt war schnell und locker und sie freute sich an ihrer neuen Beweglichkeit. Mitten auf dem Treppenabsatz drehte sie eine Pirouette, einfach nur weil es Spaß machte, sich um die eigene Achse drehen zu können.
    Als sie das Haus gekauft hatte, war das Gästezimmer fast vom ersten Moment an als Abstellraum genutzt worden. Es war vollgestopft mit Gerümpel aus hundert Jahren: Koffer, Bücher, Zeitschriften, ein rissiger Ledersessel, ein Schreibtisch mit Ornamenten und ein Dutzend schwarzer Müllsäcke voller Kleider. Eigentlich hatte sie längst vorgehabt, sie zu entsorgen, doch dann hatte sie festgestellt, dass alles irgendwann wieder modern wurde. Unter all den Sachen waren auch eine alte amerikanische Flagge mit Sternenkranz sowie ein gerahmtes Originalposter vom ersten King-Kong-Film, signiert von Edgar Wallace. Ganz hinten in dem Raum stand in einer Ecke, zur Hälfte verborgen hinter einem Stapel National-Geographic-Magazinen mit vergilbtem Rücken, ein hässlicher Kirschholz-Schrank aus dem 18. Jahrhundert, der Zeit Ludwigs XV.
    Tsagaglalal bahnte sich ihren Weg durch das Gerümpel. Sie musste stapelweise Zeitschriften beiseiteschieben, um zu dem Schrank zu gelangen. Die Tür war abgeschlossen und in dem verschnörkelten Schlüsselloch steckte kein Schlüssel. Tsagaglalal stellte sich auf die Zehenspitzen und griff hinter ein geschwungenes Holzornament über der Tür. Nachdem sie eine Weile herumgetastet hatte, fand sie den großen Messingschlüssel an einem krummen Nagel. Als sie den Schlüssel vom Nagel hob, überkam sie plötzlich ein ganzer Schwall Erinnerungen. Diesen Schrank hatte sie zum letzten Mal geöffnet, als sie nach dem 2. Weltkrieg von Berlin gekommen war. Tränen stiegen ihr in die Augen und ihre Kehle brannte. Auf dem Rückweg nach New York hatte sie in London Station gemacht und sich mit ihrem Bruder Gilgamesch getroffen. Er hatte sie nicht erkannt, hatte nicht einmal mehr gewusst, dass er eine Schwester hatte, obwohl ihm irgendwann klar wurde, dass er sie kennen sollte. Sie hatte mit ihm in einem ausgebombten Haus im Londoner East End gesessen und war die Zehntausende von Zetteln durchgegangen, die er dort aufbewahrte.
    Einen ganzen Nachmittag lang hatten sie sich immer weiter in der Zeit zurückgearbeitet. Von Papier über Pergament und dem aus Kälberhaut hergestellten Vellum waren sie schließlich zu Rinde und hauchdünnen, fast transparenten Goldplättchen vorgestoßen, bis sie ihm ihren Namen zeigen konnte, geschrieben in einer Schrift und Sprache, die die Menschen bis heute noch nicht entdeckt haben. Sie hatten zusammen geweint, als sie ihm erzählte, was sie alles gewesen waren. »Ich werde dich nie mehr vergessen«, hatte er beim Abschied gesagt. Sie hatte zugeschaut, wie er ihren Namen auf einen Zettel schrieb, und gewusst, dass er sich schon in einer Stunde weder an den Zettel noch an ihr Gesicht würde erinnern können. Tsagaglalal war mit einem Gedächtnis gestraft, das nichts vergaß; Gilgamesch war dazu verdammt, sich an nichts zu erinnern.
    Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete den Schrank.
    Ein Schwall abgestandener Luft kam ihr entgegen, der Geruch von altem Leder, bitteren Gewürzen, längst verschrumpelten Mottenkugeln und, kaum wahrnehmbar, ein Hauch von Jasmin.
    Vor ihr hing auf einem Bügel eine Schwesterntracht. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über den dünnen Stoff. Erinnerungen stiegen auf und sie begann zu zittern. In beiden Weltkriegen und in so ziemlich jedem anderen Krieg im Verlauf der letzten hundert Jahre hatte sie als

Weitere Kostenlose Bücher