Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
Kosmetik und Schönheitsoperationen. Es war die Zeit, in der die Leute alles taten, um nicht alt auszusehen, in der Film- und Popstars mit den Jahren immer jünger wurden.
Tsagaglalal nahm die graue Perücke ab, ließ sie in die Badewanne fallen und rieb sich heftig den kahlen Schädel. Wie sie diese Perücke hasste! Sie juckte ständig.
Dieses Jahrhundert hatte natürlich auch seine Gefahren. Es war das Zeitalter der Kameras – privater Kameras, Webcams und Überwachungskameras, und inzwischen hatte auch fast jedes Handy Kamerafunktion. Es war auch das Zeitalter der Lichtbildausweise: Pass, Personalausweis, Führerschein. Alles hatte ein Foto und die Unsterbliche auf diesen Fotos musste sich verändern und nach und nach altern. Ein Fehler ließ die Behörden aufmerksam werden und der wunde Punkt Unsterblicher war ihre Vergangenheit. Tsagaglalal hatte das Land seit Jahrzehnten nicht mehr verlassen und ihr amerikanischer Pass war abgelaufen. Doch in New York arbeitete ein unsterblicher Mensch, der sich früher einmal auf die Fälschung von Meisterwerken aus der Renaissance spezialisiert hatte. Jetzt verdiente er sich mit gefälschten Pässen und Führerscheinen etwas dazu. Sie würde ihn aufsuchen müssen, wenn das hier vorbei war. Falls sie überlebte.
Tsagaglalal ließ zuerst heißes, dann kaltes Wasser ins Waschbecken laufen, senkte den Kopf, spritzte es sich ins Gesicht und wusch dann mit Sheabutter-Seife die Schminke ab. Am Nachmittag hatte sie mit Unsterblichen und Älteren in ihrem Hinterhof gegrillt und sich dafür zurechtgemacht.
Sterben war immer schwer. In den Wochen und Monaten davor war immer so viel zu erledigen. Man musste sich vergewissern, dass alle Rechnungen bezahlt und sämtliche Unterlagen für die Lebensversicherung in Ordnung waren, Zeitungs- und Zeitschriftenabos mussten gekündigt und selbstverständlich musste auch ein Testament zugunsten eines »Verwandten« aufgesetzt werden. Männliche Unsterbliche vererbten in der Regel alles einem Neffen, weibliche einer Nichte. Doch es gab auch Ausnahmen. Dr. John Dee zum Beispiel hatte alles einer Reihe von Unternehmen vermacht und Machiavelli seinen gesamten irdischen Besitz seinem »Sohn«. Die Flamels beerbten sich gegenseitig und einen Neffen namens Perrier, den es wahrscheinlich nie gegeben hatte.
Tsagaglalal schaute wieder in den Spiegel. Ohne Haare und Make-up sah sie womöglich noch älter aus als sonst. Sie beugte sich vor und ließ tief in ihrer Brust ein klein wenig ihrer selten genutzten Aura aufblühen. Ein Hauch von Jasmin erfüllte das kleine Badezimmer und vermischte sich mit dem warmen Duft der Sheabutter. In ihr stieg Wärme auf, von der Brust über den Hals ins Gesicht. Sie blickte in ihre grauen Augen. Die Sclera – die weißliche Lederhaut des Auges – war gelb und von winzigen Adern durchzogen und das rechte Auge war leicht milchig, der Anfang von grauem Star. Solche Details hatte sie immer richtig nett gefunden.
Der Jasminduft wurde intensiver. Tsagaglalals Kehle und der Mund füllten sich mit Wärme, sie strömte hinauf in ihre Wangen und Augen und die Lederhaut wurde weiß.
Die Frau atmete tief ein, füllte ihre Lunge mit Luft und hielt dann den Atem an. Ihre Gesichtshaut kräuselte sich und glättete sich dann. Weiches Fleisch schob sich über die knochigen Wangen, über Nase und Kinn. Falten und die dunklen Schatten unter den Augen verschwanden und Krähenfüße wurden aufgepolstert.
Tsagaglalal war unsterblich, aber sie war kein Mensch. Ursprünglich war sie aus Ton geformt worden. Sie wurde in der namenlosen Stadt am Rand der Welt geboren, als Prometheus’ feurige Aura archaischen Tonstatuen Leben und Bewusstsein eingehaucht hatte. Tief in ihrem Inneren trug sie noch immer einen winzigen Anteil seiner Aura. Er hielt sie am Leben. Sie und ihr Bruder Gilgamesch waren die ersten der Urmenschen, die geboren wurden beziehungsweise ein Bewusstsein erlangten. Wenn sie sich erneuerte, erinnerte sie sich jedes Mal wieder in aller Deutlichkeit an den Augenblick, als sie die Augen geöffnet und den ersten Atemzug getan hatte.
Sie lachte. Das Lachen begann als das krächzende Husten einer alten Frau und endete mit dem hohen, reinen Ton einer viel jüngeren Person.
Die Kraft ihrer Aura ließ die Veränderung voranschreiten. Fleisch wurde fester, Rückenwirbel richteten sich auf, Zähne wurden weiß, sie sah und hörte wieder ausgezeichnet. Ein zarter pechschwarzer Flaum schob sich durch ihre Kopfhaut, das Haar wurde
Weitere Kostenlose Bücher