Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
ein besserer Vater sein können – sein sollen – und seinen Frauen ein besserer Ehemann. Vielleicht hätte er nicht so gierig sein dürfen – nicht nur nach Geld, sondern auch nach Wissen – und ganz gewiss hätte er das Geschenk – oder den Fluch – der Unsterblichkeit nie annehmen dürfen.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag und ihm stockte der Atem. Die Unsterblichkeit war sein Verhängnis gewesen.
Der Schatten legte sich über ihn und er sah kurz etwas Metallisches aufblinken.
Kein Tier also. Ein Mensch. Ein Räuber. Er fragte sich, ob es Kannibalen auf Danu Talis gab.
»Mach es kurz«, wisperte er. »Gewähre mir diese Gnade.«
»Hast du anderen diese Gnade gewährt?« Plötzlich hoben starke Arme ihn hoch. »Ich bringe dich noch nicht um, Dr. Dee. Ich habe noch Verwendung für dich.«
»Wer bist du?«, keuchte Dee und versuchte verzweifelt, das Gesicht des Mannes über ihm zu erkennen.
»Ich bin Marethyu. Ich bin der Tod. Aber heute, Doktor, bin ich dein Retter.«
KAPITEL NEUN
F ür Tante Agnes war es Zeit zu sterben.
Die alte Frau stand vor dem Spiegel im Badezimmer und betrachtete sich. Sie sah einen betagten Menschen mit kantigem Gesicht vor sich, mit markanten Wangenknochen, vorspringendem Kinn und spitzer Nase. Das eisengraue Haar war aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem festen Knoten aufgesteckt. Die schiefergrauen Augen lagen tief in den Höhlen. Sie sah aus wie eine vierundachtzigjährige Frau. Aber sie war Tsagaglalal, die Wächterin, und ihr Alter übertraf jede Vorstellung.
Den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Tsagaglalal die Rolle der Tante Agnes gespielt. Sie mochte diesen Körper inzwischen und fand es schade, sich von ihm trennen zu müssen. Aber sie war im Lauf der Jahrtausende schließlich in viele Rollen geschlüpft. Das Kunststück bestand darin, zu wissen, wann es Zeit war, weiterzugehen, zu sterben .
Tsagaglalal hatte in Zeiten gelebt, in denen jeder, der in irgendeiner Form anders war, verdächtig war. Die Menschen hatten viele wundervolle Eigenschaften, aber sie waren schon immer voller Argwohn und Angst gegenüber denen gewesen, die sich aus der Menge abhoben. Und das würde sich auch nicht ändern. Selbst in den besten Zeiten waren sie immer auf der Hut vor Andersartigem oder hielten Ausschau nach Leuten, die ein bisschen aus der Rolle fielen. Und es hatte eine Zeit gegeben, in der eine Frau, die sich ihr jugendliches Aussehen zu lange bewahrte, immer in Verdacht geriet.
Tsagaglalal hatte die Jahrzehnte erlebt, in denen Männer und Frauen als Hexen verbrannt wurden, nur weil sie merkwürdig aussahen oder sagten, was sie dachten, und sich nichts vorschreiben ließen. Aber schon lange vor diesen schrecklichen Jahren in Europa und später auch in Amerika hatte sie eines gelernt: Sie musste sich zum Überleben anpassen, musste so sehr Mensch werden, dass sie praktisch unsichtbar wurde.
Tsagaglalal hatte gelernt, zu altern wie alle anderen.
Jedes Jahrhundert hatte seine eigene Vorstellung davon, was richtig und angemessen war. Es hatte Zeiten gegeben, als man mit dreißig alt und mit vierzig uralt war. In einigen isolierten und primitiveren Kulturen, bei denen das Alter als Zeichen von Weisheit galt und die Alten verehrt wurden, konnte sie sechzig oder siebzig werden, bevor sie »starb« und weiterzog.
Und wenn sie alterte, dann richtig. Sie veränderte die Beschaffenheit ihrer Haut, ihre Haltung, selbst die Muskelmasse, um dem Zahn der Zeit Genüge zu tun. Vor Generationen hatte sie in Ägypten – oder war es in Babylon? – die Arthrose-Simulation perfektioniert, sodass sie jetzt ihre Knöchel, Handgelenke und Knie anschwellen lassen konnte. Später hatte sie gelernt, ihren Körper so zu manipulieren, dass die Venen dick und blau unter pergamentdünner Haut hervortraten. Geradezu meisterhaft beherrschte sie Techniken, um die Haut an ihrem Hals weich und faltig zu machen, und selbst ihre Zähne konnte sie langsam gelb werden lassen. Um die Illusion vollkommen zu machen, ließ sie ihr Gehör und ihre Augen schlechter werden. Sie wurde wirklich alt und brauchte deshalb nicht ständig so zu tun. Es war einfacher so.
Während Tsagaglalal sich weiter im Spiegel betrachtete, hob sie die Hände, zog die antiken Nadeln, die ihren Dutt hielten, heraus und schüttelte den Kopf, bis ihr die grauen Haare offen über die Schultern fielen.
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu leben, war am einfachsten gewesen. Es war die Zeit von
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