Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
Die Kugel war oben offen und ein fast unsichtbarer schwarzer Rauchfaden hatte an der Decke darüber einen kreisrunden Fleck entstehen lassen.
Prometheus stand auf der linken Seite des Throns, die Arme vor der breiten Brust verschränkt. Scathach hatte sich mit dem Rücken zur Wand neben der Tür postiert. Auf der anderen Seite der Tür lehnte Palamedes. Shakespeare stand am Fenster, blickte ins Herz des Baumes hinunter und brachte vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Mit einem zerkauten Bleistiftstummel machte er auf einem gelblichen Fetzen Papier Notizen in Kurzschrift. Vor dem Thron standen Hand in Hand Johanna und Saint-Germain und schauten die Ältere an.
Hekate war im Lauf des Tages alt geworden.
Ihr Wandel war einzigartig: Morgens war sie ein junges Mädchen. Bis zum Nachmittag verwandelte sie sich langsam in eine reife Frau, aus der dann bis zum Abend rasch eine alte Frau wurde. Die alte Frau legte sich zum Schlafen in eine schmale, ausgehöhlte Wurzel des Yggdrasill und beim Morgengrauen war sie wieder jung. Das junge Mädchen, das am Morgen erwachte, wusste nichts von der Frau, die sie tags zuvor war, und die alte Frau am Abend vergaß alles, was sich während des Tages ereignet hatte. Nur die reife Frau, die Hekate während der Nachmittagsstunden war, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, wusste um die beiden anderen Aspekte ihres Seins und verstand, was passierte. Sie war untrennbar verbunden mit dem Baum und der Baum war älter als das Schattenreich. Seine Ursprünge hatten sich im Nebel der Geschichte längst verloren. Viele hielten ihn für ein empfindungsfähiges Wesen.
»Ich habe nur noch wenige Augenblicke Zeit und vieles muss unausgesprochen bleiben«, begann die weißhaarige Frau auf dem Thron. »Ich werde rasch älter und es kann sein, dass ich in ein paar Minuten nicht einmal mehr weiß, wer ihr seid.« Ihre Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht weiß auf, als sie lächelte, doch niemand lachte. Alle wussten, es war kein Scherz.
Hekate blickte von einem zum anderen und sprach rasch weiter. »Die Ereignisse spitzen sich zu. Die meisten von euch kenne ich nicht – aber euer Kommen wurde von Abraham vorhergesagt und das genügt mir. Der Weise sagte mir, dass Humani aus der zukünftigen Zeit kommen und an unserer Seite für das Überleben meiner und die Zukunft ihrer Welt kämpfen würden.« Schillernde Regenbogenfarben leuchteten auf und liefen von unten nach oben über ihr Kleid. »Wir leben in gefährlichen Zeiten. Ich verstehe es zwar nicht ganz, aber mir wurde gesagt, dass es in diesem bestimmten Zeitstrang eine Möglichkeit gibt, die Zukunft zu formen und alles neu zu gestalten. Es klingt erstaunlich, ja, sogar ungeheuerlich, aber wir leben schließlich im Zeitalter des Außergewöhnlichen. Wie es scheint, versuchen andere, die Zukunft nach ihren persönlichen Bedürfnissen zu gestalten. Abraham und Kronos haben mir versichert, dass Milliarden von Leben einfach ausgelöscht würden, falls diese anderen siegen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht zulassen.«
»Ihr trefft Kriegsvorbereitungen«, sagte Scathach. »Wir haben gesehen, wie die Truppen zum Appell antraten.«
»Kein Krieg. Eine Rettungsaktion. Allerdings fürchte ich, dass sie nicht gut ausgehen wird.« Die alternde Frau wandte sich an Prometheus. »Ist alles bereit?«
»Ja, Mylady. Wir warten nur noch auf Euren Befehl.«
Auf Hekates hoher Stirn waren die ersten Falten erschienen, wenn auch noch kaum sichtbar in der dunklen Haut. Sie runzelte die Stirn und die Falten gruben sich tiefer ein. »Wisst ihr, welches das größte Geschenk ist, das Eltern ihrem Kind machen können?«, fragte sie und blickte von einem zum anderen.
Niemand antwortete.
»Unabhängigkeit. Ihm zu erlauben, dass es hinausgeht in die Welt und eigene Entscheidungen trifft, eigene Wege geht. Wir von der Älteren Generation haben von den Archonen und Großen Älteren ein Paradies geerbt. Wir haben es nicht pfleglich behandelt und jedem, der Augen hat zu sehen, ist klar, dass diese Welt dem Untergang geweiht ist, wenn wir so weitermachen. Und wir werden so weitermachen – nach Veränderung verlangt niemandem. Wisst ihr, was der größte Fehler ist, den Eltern machen können?«
Wieder kam keine Antwort.
Die Ältere blickte in die Runde. »Hat jemand von euch Kinder?«
William Shakespeare trat vom Fenster zurück. »Ich. Zwei Mädchen und einen Jungen«, antwortete er stolz.
»Bist du der Geschichtenerzähler, der Dichter?«
Shakespeare
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