Die geheimnißvolle Insel
die Maßregeln, welche Harbert’s Zustand erheischte.
Zunächst erschreckte ihn freilich der allgemeine Stupor des Verwundeten, der entweder von dem Blutverluste herrührte oder von einer Lähmung des Nervensystemes, wenn die Kugel kräftig genug an einen Knochen geschlagen hatte, um jenes heftig zu erschüttern.
Harbert lag todtenbleich da und mit einem so schwachen Pulsschlage, daß Gedeon Spilett ihn nur in größeren Zwischenräumen deutlich fühlte, wie es kurz vor dem gänzlichen Erlöschen vorzukommen pflegt. Gleichzeitig schwieg bei dem Verwundeten jedwede Thätigkeit der Sinne oder der Intelligenz. Das waren alles sehr ernste Symptome.
Harbert’s Brust ward entblößt und nach Beseitigung des halb geronnenen Blutes mit kaltem Wasser gewaschen. Die Contusion oder vielmehr die Wunde wurde sichtbar. Ein ovales Loch fand sich auf der Brust zwischen der dritten und vierten Rippe. Hier war die Kugel eingedrungen.
Cyrus Smith und Gedeon Spilett drehten den armen Knaben um, der einen so leisen Klagelaut hören ließ, als wär es sein letzter Seufzer.
Eine zweite Wunde blutete auf Harbert’s Rücken, und sogleich fiel auch die Kugel, die ihn getroffen hatte, heraus.
»Gott sei Dank! sagte der Reporter; mindestens ist die Kugel nicht in dem Körper geblieben, und wir brauchen sie nicht erst heraus zu holen.
Aber das Herz? … fragte Cyrus Smith.
– Das Herz kann nicht getroffen worden sein, ohne daß Harbert todt wäre!
– Todt?!« schrie Pencroff in seiner Verzweiflung.
Der Seemann hatte nur die letzten Worte des Reporters gehört.
»Nein, Pencroff, nein! versicherte Cyrus Smith, er ist nicht todt! Sein Puls schlägt ja! Er hat sogar leise gestöhnt. Doch, im eigenen Interesse Eures Kindes, beruhigt Euch. Jetzt haben wir Alle des kalten Blutes nöthig. Sorgt, daß wir es nicht auch verlieren, wackrer Freund!«
Pencroff schwieg, aber die Bewegung übermannte ihn; große Thränen rannen über sein ehrliches Gesicht.
Gedeon Spilett durchwühlte den Schatz seiner Erinnerungen, um jetzt mit Methode zu verfahren. Dem Augenscheine nach stand es für ihn außer Zweifel, daß die Kugel vorn zwischen der dritten und vierten Rippe eingedrungen und auf der Rückseite zwischen der siebenten und achten Rippe wieder ausgetreten war. Aber welche Zerstörungen hatte sie auf diesem Wege hinterlassen? Auch ein Fachmann wäre wohl in Verlegenheit gekommen, das sofort zu bestimmen; um wie viel weniger vermochte es der Reporter.
Eines wußte er: es mußte der entzündlichen Entartung der verletzten Theile vorgebeugt und die locale Entzündung sowie das unausbleibliche Wundfieber in Schranken gehalten werden. Welche örtliche, welche fieberwidrige Mittel sollte er anwenden? Womit diese gefährliche Entzündung begrenzen?
Auf jeden Fall erschien es wichtig, die beiden Wunden zu verbinden. Gedeon Spilett fand es unnöthig, noch eine neue Blutung durch Waschen mit warmem Wasser hervor zu rufen und die Wundlippen zu comprimiren. Der Blutverlust war sehr reichlich gewesen und Harbert für einen wiederholten Verlust zu schwach.
Der Reporter glaubte sich also mit einer kalten Auswaschung der Wunde begnügen zu können.
Harbert wurde auf die linke Seite gelegt und in dieser Lage erhalten.
»Er darf sich nicht bewegen, verordnete Gedeon Spilett. Jetzt ist er in der für die Eiterung der Brust-und Rückenwunde günstigsten Lage, und ihm die absoluteste Ruhe nöthig.
– Was? Wir können ihn nicht nach dem Granithause bringen? fragte Pencroff.
– Nein, Pencroff, antwortete der Reporter.
– Verwünscht! rief Pencroff mit gen Himmel geballter Faust.
– Pencroff!« sagte mahnend Cyrus Smith.
Gedeon Spilett beobachtete den Verwundeten wieder mit peinlichster Aufmerksamkeit. Harbert blieb so entsetzlich bleich, daß es den Reporter beunruhigte.
»Cyrus, begann er, ich bin kein Arzt, ich schwebe in der schrecklichsten Ungewißheit; Sie müssen mir mit Ihrem Rathe, Ihrer Erfahrung beistehen! …
– Erst werden Sie wieder ruhig, mein Freund, sagte der Ingenieur und ergriff des Reporters Hand. Urtheilen Sie mit kaltem Blute … denken Sie nur das Eine: Harbert muß uns gerettet werden!«
Diese Worte gaben Gedeon Spilett einigermaßen die Herrschaft über sich selbst zurück, welche ihm in einem Augenblick der Entmuthigung das lebhafte Gefühl der Verantwortlichkeit zu rauben drohte. Er setzte sich neben das Bett. Cyrus Smith blieb stehen. Pencroff hatte sein Hemd zerrissen und zupfte ganz maschinenmäßig Charpie.
Gedeon
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