Die geheimnißvolle Insel
sich jetzt auf der Hälfte des Weges dorthin, mußten also noch zweiundeinhalb Meilen zurücklegen und gingen in Laufschritt über.
In der That lag die Befürchtung nahe, daß bei der Viehhürde irgend ein ernstes Ereigniß vorgefallen sei. Gewiß hatte Ayrton ein Telegramm absenden können, welches nicht eingetroffen war, und das beunruhigte seine Freunde noch am wenigsten; unerklärlich blieb es aber, daß Ayrton trotz seiner für den Abend vorher zugesagten Rückkehr nicht erschien. Die Unterbrechung jeder Verbindung zwischen den beiden Stationen mußte wohl einen tiefer liegenden Grund haben, für wen Anderen aber, als für die Sträflinge, konnte diese Unterbrechung einen Werth haben?
Die Colonisten eilten mit ihrer bedrückenden Angst im Herzen nach Kräften. Sie fühlten ihre ganze Zuneigung zu ihrem neuen Kameraden. Sollten sie ihn vielleicht erschlagen finden von den Händen Derjenigen, deren Anführer er vorher gewesen?
Bald gelangten sie nach der Stelle, von der aus der Weg dem kleinen von dem Rothen Flusse abgeleiteten Wasserlaufe folgte, welcher die Wiesen der Hürde befruchtete. Sie hatten ihre Schritte gemäßigt, um nicht athemlos zu sein, wenn der Augenblick des Kampfes etwa unerwartet an sie heranträte. Die Flinten wurden »fertig« gehalten. Jeder überwachte eine Seite des Waldes. Top ließ ein leises Knurren von übler Vorbedeutung hören.
Ein Schuß über die Palissade. (S. 562.)
Endlich blickte der Palissadenzaun durch die Baumstämme, ohne eine Beschädigung zu zeigen; seine Thür war geschlossen wie gewöhnlich. Tiefes Schweigen herrschte in der Hürde, weder das gewohnte Blöken der Mouflons, noch die Stimme Ayrton’s ließ sich hören.
»Wir wollen hineingehen«, sagte der Ingenieur.
Cyrus Smith ging voran, während seine Gefährten auf zwanzig Schritt hinter ihm wachten und sich zum Abfeuern bereit hielten.
Der Ingenieur hob den inneren Querriegel des Thores und wollte einen Flügel aufschlagen, als Top wüthend anschlug. Ein Schuß krachte über die Palissade heraus, ein Schmerzensschrei antwortete ihm.
Von einer Kugel getroffen sank Harbert zu Boden.
Fußnoten
1 Man versteht hierunter ein Stück alte Leinwand, welches gefaltet in die Klüsen gelegt wird, um die Reibung und Zerstörung des durchlaufenden Ankertaues zu verhindern.
Siebentes Capitel.
Der Reporter und Pencroff in der Hürde. – Harbert’s Transport. – Des Seemanns Verzweiflung. – Consultation des Reporters und des Ingenieurs. – Behandlungsweise. – Man schöpft einige Hoffnung. – Wie erhält Nab Nachricht? – Ein treuer verläßlicher Bote. – Nab’s Antwort.
Auf Harbert’s Schrei eilte Pencroff, die Waffe wegwerfend, zu diesem.
»Sie haben ihn getödtet! rief er, ihn, meinen Sohn, sie haben ihn ermordet!«
Cyrus Smith und Gedeon Spilett kamen zu Harbert hergelaufen. Der Reporter horchte, ob das Herz des Knaben noch schlüge.
»Er lebt! sagte er, doch wir müssen ihn wegschaffen …
– Nach dem Granithause? Unmöglich! antwortete der Ingenieur.
– Nun denn, in die Hürde! rief Pencroff.
– Halt, einen Augenblick nur!« sagte Cyrus Smith.
Er wandte sich nach links, um die Hürdenwand zu umgehen. Dort traf er auf einen Sträfling, der auf ihn anlegte und seinen Hut durchlöcherte.
Einen Augenblick darauf aber lag er schon, ohne dazu zu kommen, noch einmal Feuer zu geben, von Cyrus Smith’s Dolche, der sicherer traf als Jenes Flinte, durchbohrt an der Erde.
Indessen kletterten Gedeon Spilett und der Seemann an den Ecken der Palissade empor, sprangen in die Umzäunung, warfen die Riegel zurück, welche das Thor von innen schlossen, drangen in das Wohnhäuschen, das sie übrigens leer fanden, und bald ruhte der arme Harbert auf Ayrton’s Lagerstätte.
Wenige Augenblicke später war Cyrus Smith neben ihm.
Als der Seemann Harbert leblos sah, faßte ihn ein unsäglicher Schmerz. Er schluchzte, er weinte, er wollte sich den Kopf an der Wand einstoßen. Weder der Ingenieur, noch der Reporter vermochten ihn zu beruhigen. Sie verstummten vor Mitgefühl auch selbst.
Jedenfalls thaten sie aber das Ihrige, den armen Knaben, der unter ihren Augen zu verenden schien, dem Tode zu entreißen. Gedeon Spilett hatte bei seinem vielbewegten Leben auch einige Kenntnisse der Wundarzneikunst erworben. Er wußte von Allem etwas, und mehr als einmal war es vorgekommen, daß er bei Verwundungen durch blanke Waffen oder Gewehrkugeln zur Hilfe eintreten mußte. Von Cyrus Smith unterstützt traf er also
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