Die geheimnißvolle Insel
Spilett ohne Zögern die Nachbarschaft ausspioniren, und Pencroff, dessen Geduld zu Ende ging, erbot sich zu seiner Begleitung.
»Nein, nein, meine Freunde, mahnte der Ingenieur ab; wartet die Dunkelheit ab. Ich kann nicht zugeben, daß sich Einer oder der Andere am Tage bloßstellt …
– Aber Herr Cyrus … erwiderte der Seemann, dem das Gehorchen sauer anging.
– Ich bitte Sie darum, Pencroff, sagte der Ingenieur.
– So sei’s!« antwortete der Seemann, der seiner Wuth eine andere Schleuße öffnete und die Sträflinge mit den grimmigsten Verwünschungen der Matrosensprache überschüttete.
Die Colonisten blieben demnach bei dem Gefährte und überwachten sorgfältig die bewaldete Nachbarschaft.
So vergingen drei Stunden. Der Wind hatte sich gelegt, und unter den mächtigen Bäumen herrschte tiefe Stille. Das Zerbrechen des dünnsten Zweiges, das Geräusch von Schritten auf dürren Blättern, das Schlüpfen einer Person durch die hohen Gräser wäre leicht genug zu hören gewesen. Alles blieb still. Top streckte sich, den Kopf zwischen den Vorderpfoten, nieder und verrieth keinerlei Unruhe.
Um acht Uhr schien der Abend genügend vorgeschritten, um eine Auskundschaftung unter günstigen Verhältnissen vornehmen zu können. Gedeon Spilett erklärte sich nebst Pencroff dazu bereit. Cyrus Smith erhob keinen Widerspruch. Top und Jup sollten bei den Uebrigen zurück bleiben, um nicht durch ein unzeitiges Bellen oder Schreien die Aufmerksamkeit der Feinde zu erregen.
»Lassen Sie sich nicht zu weit ein, empfahl Cyrus Smith den beiden Kundschaftern. Sie sollen die Hürde gegebenen Falls nicht einnehmen, sondern nur erspähen, ob sie besetzt ist oder nicht.
– Wir verstehen«, antwortete Pencroff.
Beide machten sich auf den Weg.
Unter den Bäumen ließ, Dank ihrem dichten Laube, die Dunkelheit Gegenstände schon auf dreißig bis vierzig Schritte nicht mehr wahrnehmen. Der Reporter und Pencroff standen still, sobald irgend ein Geräusch ihren Verdacht weckte, und drangen überhaupt nur mit größter Vorsicht weiter.
Sie gingen ein wenig von einander, um einem etwaigen Schusse ein geringeres Ziel zu bieten, und, offen gestanden, sie erwarteten auch jeden Augenblick einen Knall zu hören.
Fünf Minuten nach Verlassen des Halteplatzes waren Gedeon Spilett und Pencroff am Saume des Waldes angekommen, vor dem sich in der Lichtung die Hürdenpalissade hinzog.
Sie hielten an. Ein unbestimmter Lichtschein lag noch über dem baumlosen Wiesenplane. Dreißig Schritte von ihnen erhob sich das scheinbar gut geschlossene Hürdenthor. Diese dreißig Schritte, welche zwischen dem Walde und der Umzäunung zurückzulegen waren, bildeten, um einen Artilleristenausdruck zu gebrauchen, die gefährliche Zone. Eine oder mehrere Kugeln von dem Kamme der Palissade hätten offenbar Jeden, der sich auf diese Zone wagte, hinstrecken müssen.
Gedeon Spilett und Pencroff kannten zwar Beide keine Furcht, aber sie wußten auch, daß eine Unklugheit ihrerseits, deren erste Opfer sie selbst wären, schwer auf ihre Gefährten zurückwirken mußte. Fielen sie Beide, was sollte aus Cyrus Smith, Nab und Harbert werden?
Pencroff, der sich so nahe der Hürde nicht mehr zurückhalten konnte, wollte schon auf diese, da er sie von den Verbrechern besetzt glaubte, losstürmen, als der Reporter ihn noch mit kräftiger Hand zurückdrängte.
»Bald wird es ganz dunkel sein, sagte Gedeon Spilett leise, dann ist’s auch Zeit zum Handeln.«
Pencroff faßte krampfhaft seinen Flintenkolben, und blieb unter heimlichen Verwünschungen in der gedeckten Stellung.
Jetzt erlosch der letzte Dämmerschein. Die Dunkelheit, welche aus dem dichten Walde zu kommen schien, überzog auch die Lichtung. Der Franklin-Berg strebte gleich einem riesenhaften Lichtschirme vor dem westlichen Horizonte empor, und schnell brach die Nacht herein, wie es an Orten von niedriger geographischer Breite immer der Fall ist. Jetzt galt es!
Der Reporter und Pencroff hatten, seitdem sie am Saume des Waldes saßen, die Umzäunung nicht aus den Augen verloren. Die Hürde schien vollkommen verlassen. Der Kamm der Palissade bildete eine noch etwas schwärzere Linie, als ihre Umgebung, zeigte aber keine Unterbrechung. Wären die Sträflinge hier gewesen, so hätten sie Einen von sich daselbst als Wache ausstellen müssen, um sich vor jeder Ueberrumpelung zu sichern.
Gedeon Spilett drückte die Hand seines Gefährten, und Beide krochen langsam auf der Erde vorwärts, die Gewehre immer
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