Die geheimnißvolle Insel
eingehaltene Richtung.
Es unterlag keinem Zweifel, daß die Leitung unmittelbar nach dem Meere zu lief. Dort, in einer Höhlung der vulkanischen Gesteine, würde sich jenes so lange vergeblich gesuchte Versteck gewiß finden.
Der Himmel stand in Flammen, die Blitze folgten sich unaufhörlich. Wiederholt schlugen sie auf den Gipfel des Franklin nieder und züngelten durch seine dichte Rauchhaube, so daß man zu glauben versucht wurde, der Berg selbst speie das Feuer aus.
Wenige Minuten vor elf Uhr waren die Colonisten an einem hohen Rande angelangt, der den Ocean nach Westen hin beherrschte. Der Wind hatte sich erhoben. Fünfhundert Fuß unter ihnen schlug die Brandung gegen die Felswand.
Cyrus Smith berechnete, daß sie von der Hürde bis hierher etwa eine Entfernung von anderthalb Meilen zurückgelegt hatten.
An dieser Stelle verlor sich der Draht zwischen wildem Gestein und folgte dem steilen Abhange eines engen, vielfach gewundenen Hohlweges.
Die Colonisten wagten sich hinein auf die Gefahr hin, ein Nachstürzen der ungenügend gestützten Blöcke zu veranlassen und in’s Meer geworfen zu werden. Das Niedersteigen war ungemein gefährlich, aber sie rechneten jetzt mit keiner Gefahr, sie verloren ja schon längst fast die Herrschaft über sich selbst, und eine unwiderstehliche Kraft zog sie an, wie der Magnet das Eisen anzieht.
So klommen sie fast gedankenlos jenen Hohlweg hinab, der selbst bei vollem Tageslichte sonst wohl ganz unpassirbar erschienen wäre. Die Steine rollten unter ihren Füßen fort und erglänzten wie glühende Boliden, wenn sie durch eine beleuchtete Zone hüpften. Cyrus Smith ging Allen voraus, Ayrton schloß den Zug. Hier drangen sie Schritt für Schritt vorwärts, dort glitten sie über die schlüpfrigen Felsen – auf jede Weise setzten sie ihren Weg fort.
Endlich beschrieb der Draht einen scharfen Winkel und lehnte sich an die Uferfelsen, wahrhafte Klippen, welche jede Hochfluth überspülen mußte. Die Colonisten hatten die untere Grenze der Basaltmauer erreicht.
Dort zog sich wieder eine leichte Erhöhung parallel der Küste hin, welcher der Draht folgte und der die Colonisten nachgingen. Nach kaum hundert Schritten senkte sich dieser Uferwall wieder und verlief unmittelbar an dem Gestade des Meeres.
Der Ingenieur ergriff den Draht; er überzeugte sich, daß jener sich in das Wasser fortsetzte.
Seine Gefährten standen erstaunt neben ihm.
Ein Ruf der Enttäuschung und der Verzweiflung entrang sich ihnen! Sollten sie sich gar in’s Wasser stürzen und eine unterseeische Höhle aufsuchen? Bei ihrer übermäßigen Erregtheit wären sie wohl auch vor diesem Versuche nicht zurückgeschreckt.
Eine Bemerkung des Ingenieurs hielt sie zurück.
Cyrus Smith führte seine Freunde nach einer Felsenhöhlung und sprach:
»Fassen wir uns in Geduld. Es ist jetzt Fluthzeit; bei der Ebbe wird der Weg offen sein.
– Aber wie können Sie glauben … fragte Pencroff.
– Er hätte uns nicht gerufen, wenn es unmöglich wäre, zu ihm zu gelangen!«
Cyrus Smith sprach in einem Tone so sicherer Ueberzeugung, daß kein Widerspruch laut wurde. Seine Bemerkung war wohl logisch richtig. Man konnte annehmen, daß sich eine jetzt überfluthete, doch bei niedrigem Wasser gangbare Oeffnung in der Uferwand zeigen werde.
Jetzt galt es, einige Stunden zu warten. Schweigend verkrochen sich die Colonisten in ihrer einstweiligen Zuflucht. Nun begann es auch zu regnen, und manchmal ergossen die von den Blitzen zerfetzten Wolken wahrhafte Ströme. Das Echo gab das Krachen des Donners wieder und verlieh ihm eine furchtbare Großartigkeit.
Die Erregung der Colonisten nahm immer mehr zu. Tausend wunderbare, übernatürliche Gedanken drängten sich in ihrem Gehirn und erzeugten ihnen eine wahrhaft übermenschliche Vorstellung von dem Gesuchten, welche allein dem geheimnißvollen Wesen desselben entsprechen zu können schien.
Gegen Mitternacht ergriff Cyrus Smith die Fackel und stieg nach dem Strande hinab, um sich vom Stande des Wassers zu überzeugen. Schon seit zwei Stunden fiel das Meer.
Der Ingenieur hatte sich nicht getäuscht. Schon hob sich die obere Wölbung einer Oeffnung aus der Fluth heraus. Dort bog sich der Draht in rechtem Winkel und drang in einen Felsengang ein.
Cyrus Smith kehrte zu seinen Gefährten zurück und sagte einfach:
»In einer Stunde wird die Oeffnung gangbar sein.
– Sie ist also vorhanden? fragte Pencroff.
– Haben Sie je daran gezweifelt? erwiderte Cyrus Smith.
– Doch
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