Die geheimnißvolle Insel
nehmen.
Alle betrachteten ihn mit erklärlicher Neugier. Er war es also, den sie den »Genius der Insel« nannten, das mächtige Wesen, dessen Intervention bei so vielen Gelegenheiten sich so wirksam erwiesen; der Wohlthäter, dem sie so viel Dank schuldeten. Vor ihren Augen sahen sie nur einen Mann, wo Pencroff und Nab fast einen Gott zu sehen gehofft hatten, und dieser Mann war dem Tode nahe!
Wie kam es aber, daß Cyrus Smith den Kapitän Nemo kannte? Warum erhob sich dieser so rasch, als er seinen Namen, den er gänzlich unbekannt wähnte, nennen hörte? …
Der Kapitän hatte auf dem Divan wieder Platz, genommen, und auf seinen Arm gestützt sah er den Ingenieur an, der neben ihm saß.
»Sie kennen den Namen, den ich geführt habe? fragte er.
– Ich kenne ihn, antwortete Cyrus Smith, ebenso wie den Namen des wunderbaren unterseeischen Apparates …
– Den Nautilus? sagte halb lächelnd der Kapitän.
– Den Nautilus.
– Aber wissen Sie … Wissen Sie, wer ich bin?
– Ich weiß es.
– Fast dreißig Jahre sind verflossen, seitdem ich keine Verbindung mit der bewohnten Welt mehr habe, dreißig Jahre, die ich in den Tiefen des Meeres verlebte, die einzige Umgebung, in der ich die Unabhängigkeit fand! Wer hat mein Geheimniß verrathen?
– Ein Mann, der Ihnen nie unterthan war, Kapitän Nemo, und der folgerichtig des Verraths nicht angeklagt werden kann.
– Jener Franzose, den der Zufall vor sechzehn Jahren an meinen Bord führte.
– Derselbe.
– Dieser Mann nebst seinen zwei Gefährten ist also nicht in dem Maelstrom umgekommen, in den der Nautilus gerathen war?
– Sie sind nicht umgekommen, und unter dem Titel: ›20,000 Meilen unter dem Meere‹ ist ein Werk erschienen, das Ihre Geschichte erzählt.
– Meine Geschichte während weniger Monate, mein Herr! entgegnete lebhaft der Kapitän.
– Es ist wahr, antwortete Cyrus Smith, doch wenige Monate dieses eigenthümlichen Lebens haben hingereicht, Sie kennen zu lernen …
– Als einen Schuldbeladenen ohne Zweifel? erwiderte Kapitän Nemo, indem über seine Lippen ein überlegenes Lächeln spielte. Ja, als einen Empörer, der von der Menschheit in Bann gethan war!«
Der Ingenieur schwieg.
»Nun, mein Herr?
– Ich habe über Kapitän Nemo nicht abzuurtheilen, antwortete Cyrus Smith, mindestens nicht über seine Vergangenheit. Wie aller Welt sind auch mir die Beweggründe für ein solch’ abenteuerliches Leben unbekannt, und ich kann über die Folgen nicht urtheilen, wo mir die Ursachen derselben fehlen; das aber weiß ich, daß eine wohlthätige Hand seit unserer Ankunft auf der Insel Lincoln stets über uns waltete, daß wir Alle unser Leben einem guten, edelmüthigen, mächtigen Wesen verdanken, und daß Sie, Kapitän Nemo, dieses gute, edelmüthige und mächtige Wesen waren!
– Ich war es!« erwiderte einfach der Kapitän.
Der Ingenieur und der Reporter hatten sich erhoben. Ihre Gefährten näherten sich, und schon wollte die Erkenntlichkeit ihrer Herzen sich in Bewegungen und Worten Luft wachen, als Kapitän Nemo sie durch ein Zeichen mit der Hand zurückhielt und mit bewegterer Stimme, als man von ihm erwartet hätte, sagte:
»Erst wenn Ihr mich angehört habt!« 1
In wenigen kurzen und verständlichen Worten erzählte der Kapitän sein ganzes Leben.
Seine Erzählung nahm keine lange Zeit in Anspruch, und doch mußte er alle ihm verbliebene Energie zusammen raffen, um sie zu Ende zu führen. Offenbar kämpfte er gegen eine ungeheure Schwäche. Mehrmals bat ihn Cyrus Smith, sich zu erholen, aber er schüttelte den Kopf, wie ein Mann, dem der morgende Tag nicht mehr gehört, und als der Reporter ihm seine Hilfe anbot, antwortete er:
»Sie ist unnütz; meine Stunden sind gezählt.«
Kapitän Nemo war ein Indier, der Prinz Dakkar, Sohn eines Rajahs des früher unabhängigen Territoriums Bundelkund und Neffe des indischen Helden Tippo-Saib. Sein Vater schickte ihn schon im zehnten Lebensjahre nach Europa, um ihn eine möglichst gute Erziehung genießen zu lassen, und mit der zu Grunde liegenden Absicht, eines Tages mit gleichen Waffen gegen Diejenigen kämpfen zu können, welche er als die Unterdrücker seines Landes betrachtete.
Vom zehnten bis zum dreißigsten Jahre unterrichtete sich Prinz Dakkar in Folge seiner hervorragenden Geistesgaben nach allen Seiten, in den Wissenschaften und Künsten, die er sich alle in hohem Grade aneignete.
Prinz Dakkar bereiste ganz Europa. Seine Geburt und seine Reichthümer machten, daß er
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