Die geheimnißvolle Insel
nicht gern geringschätzen hörte, Sie spielen den Feinschmecker? Vor sieben Monaten, als wir auf die Insel geworfen wurden, wären Sie wohl herzlich froh gewesen, solch’ ein Stück Wild zu haben …
– Da haben Sie es, fiel der Reporter ein, der Mensch ist eben nie vollkommen und niemals zufrieden.
– Nun, ich denke, Nab soll meine Milchschweine freudiger aufnehmen. Hier, sehen Sie nur, sie sind kaum drei Monate alt, und zart wie Wachteln. Komm, Nab, heute werde ich die Küche selbst mit besorgen!«
Der Seemann und der Neger gingen an die gewohnte Beschäftigung.
Man ließ sie nach Belieben schalten. Die Köche bereiteten auch wirklich eine vorzügliche Mahlzeit. Die beiden kleinen Pecaris, eine Kängurufleisch-Suppe, Schinken, Pinienzapfen, Drachenbaumbier, Oswego-Thee, überhaupt Alles, was es nur Leckeres gab.
Um fünf Uhr ward der Tisch im Speisesaal gedeckt. Die Kängurusuppe dampfte; man fand sie vortrefflich.
Der Suppe folgten die gedämpften Pecaris, welche Pencroff selbst vorschneiden wollte und von denen er Jedem ein riesiges Stück servirte.
Die Milchschweine wurden ausgezeichnet gefunden, und Pencroff verzehrte seinen Theil mit gerechtem Stolze, als urplötzlich ein Schrei und ein gelinder Fluch über seine Lippen kamen.
»Was giebt es denn? fragte Cyrus Smith.
– Ich habe … ich habe … mir eben einen Zahn zerbrochen, antwortete kleinlaut der Seemann.
– Aha, fiel der Reporter ein, in Ihren Pecaris stecken also Kieselsteine?
– Ich möchte es fast glauben«, erwiderte Pencroff und zog das
Corpus delicti
hervor, das ihm einen Backenzahn kostete …
Ein Kiesel war das freilich nicht … wohl aber ein Schrotkorn!
Zweiter Theil.
Der Verlassene.
Erstes Capitel.
Von dem Schrotkörnchen und seiner Bedeutung. – Der Bau einer Pirogue. – Die Jagden. – Auf dem Wipfel eines Kauris. – Kein Anzeichen der Gegenwart eines Menschen. – Nab’s und Harbert’s Fang. – Die umgedrehte Schildkröte. – Wieder verschwunden. – Cyrus Smith’s Erklärung.
Genau vor sieben Monaten hatte der Ballon seine Insassen nach der Insel Lincoln verschlagen. So oft diese auch während der verflossenen Zeit darnach geforscht, nie war ihnen ein menschliches Wesen begegnet. Keine Spur der Thätigkeit seiner Hände verrieth es, daß ein Mensch vor längerer oder kürzerer Zeit diesen Boden betreten habe. Die Insel schien nicht nur jetzt unbewohnt, sondern ließ auch glauben, daß es nie anders gewesen sei. Und nun fiel doch dies ganze wohlbegründete Gebäude von Schlußfolgerungen durch ein winziges, im Körper eines unschuldigen Nagethieres gefundenes Metallkörnchen zusammen!
Ohne Zweifel mußte dieses Schrotkorn von einer Feuerwaffe herrühren, und wer anderes, denn ein Mensch, sollte sich einer solchen bedient haben?
Als Pencroff das Bleikügelchen auf den Tisch gelegt hatte, betrachteten es seine Gefährten mit gerechter Verwunderung. Alle Consequenzen dieses trotz seiner Unscheinbarkeit hochwichtigen Ereignisses zogen an ihrem Geiste vorüber. Wahrlich, auch die Erscheinung eines übernatürlichen Wesens hätte keinen tieferen Eindruck auf sie machen können.
Cyrus Smith zögerte nicht, alle Hypothesen, zu denen dieses ebenso erstaunliche als unerwartete Ereigniß verleiten mußte, näher in’s Auge zu fassen.
Er nahm das Schrotkorn, drehte und wendete es, prüfte es zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte:
»Sie sind sich also sicher, Pencroff, daß das von diesem Schrote verwundete Pecari kaum drei Monate alt war?
– Kaum so alt, Herr Cyrus, antwortete Pencroff; es saugte noch an dem Mutterschweine, als ich es fand.
– Gut, fuhr der Ingenieur fort, hierdurch ist demnach bewiesen, daß vor höchstens drei Monaten auf der Insel Lincoln ein Flintenschuß abgefeuert wurde.
– Und daß ein Schrotkorn, fügte Gedeon Spilett hinzu, dieses kleine Thier nicht tödtlich getroffen hat.
– Unzweifelhaft, bestätigte Cyrus Smith, und hieraus ist Folgendes zu schließen: Entweder war die Insel schon vor unserer Hierherkunft bewohnt, oder es landeten doch vor höchstens drei Monaten Menschen an derselben. Sind Jene nun freiwillig oder nicht hierher gelangt, durch eine beabsichtigte Landung oder durch einen Schiffbruch? Diese Frage wird erst später ihre Lösung finden können. Ob es Europäer oder Malayen, Freunde oder Feinde unserer Race gewesen, läßt sich jetzt ebenso wenig beurtheilen, wie wir wissen können, ob Jene noch hier verweilen oder die Insel wieder verließen. Doch berühren uns
Weitere Kostenlose Bücher