Die geheimnisvollen Pergamente
essen: Reis, einen Becher Granatapfelsaft, Käse oder kleine Stücke Salzfisch, Brot oder süßes Gebäck vom Vortag.
»Das Paradies ist dir sicher!«, rief Seyam Yusuf jedem Spender nach. Seine Stimme war dünn und hell, es war die Stimme eines vom Schicksal Gezeichneten. An keinem Tag war er vor Mittag zu sehen; niemand konnte sich erinnern, ihn gehen gesehen zu haben, aber er wechselte seinen Platz nach einem unerforschlichen Muster. Stets war er dort zu finden, wo einerseits viele Stadtbewohner und Besucher vorbeiströmten und andererseits begüterte Muslim-Brüder zu finden waren. Ihm fehlte der linke Arm von der Schulter an.
»Gib Almosen, Vater des Reichtums!«
Wieder klirrte eine Münze in der Bettelschale. Der Bettler dankte mit zittriger Stimme.
»Die Houris im Paradies werden dich verwöhnen, du Großzügiger!«
An einem dieser Tage hockte er vor dem Eingang der Medrese unter einem Dach aus Palmwedeln und betrachtete unter halb geschlossenen Lidern die muslimischen Gelehrten, die ein und aus gingen. Jeder zweite warf sein Scherflein in die Schale. Manche übersahen ihn, weil sie zu zweit oder dritt in Gespräche vertieft waren. Wenn mehr als drei Münzen in der Schale lagen, griff der Bettler hinein und versteckte die Hälfte hinter seinem fadenscheinigen Stoffgürtel. Zwar saß er im Schatten, aber der Schweiß auf seinem Gesicht vermischte sich mit den Absonderungen der Geschwüre. Immer wieder wischte er mit einem Tuch über die Haut und ächzte dabei leise. Wieder fiel eine Drachme in die Schale.
»Deine Großzügigkeit ist ohnegleichen, o Emir der Freigiebigkeit! Ich danke dir im Namen des Allerbarmers.«
Stunde um Stunde verging, und die Schatten wanderten. Die Koranschüler verließen die Schulgebäude, und einige von ihnen hatten kleine Münzen für Seyan Yusuf übrig. Als nur noch wenige Menschen auf dem Platz zu sehen waren, stand der Bettler auf und musste sich dabei mit seinem Arm an der Mauer abstützen.
Er schob die Bettelschale in den Ärmel seines Burnus, hob das Kissen auf und hinkte davon. Der linke Ärmel hing herunter und flatterte im Takt seiner Schritte. Langsam ging er von Gasse zu Gasse, vornüber gebeugt und mit schlurfenden Schritten. Die Menschen wichen ihm aus, niemand sprach ihn an. Er bewohnte ein winziges, dreistöckiges Haus, das zwischen größeren, weißen Stadthäusern eingezwängt stand. Der Bettler fischte mühsam den Schlüssel aus dem schweißfeuchten Halsausschnitt des Burnus, schloss auf und verriegelte die Tür von innen. Die Eingangstür war halb so breit wie die Hausfront.
Yusuf stand nun in einem schmalen, lang gestreckten Raum. Er tastete sich neben der Treppe an der Wand entlang bis zur Kochstelle, wo unter einem Haufen Asche noch ein Kern Glut rot schimmerte. Mit einem Span entzündete er einige Öllichter, hinkte zur Hintertür und zog den schwarzen Vorhang zu.
Er setzte sich an einen kleinen Tisch und zog die Säume des Burnus über die Schultern herunter, dann löste er die den Riemen, mit dem er den linken Arm am Oberkörper festgeschnallt hatte. Er bewegte mit erleichtertem Stöhnen seine Schultern, ließ beide Arme kreisen und rückte die Lämpchen näher an einen handgroßen Spiegel.
Mit einiger Mühe zog er den dünnen Stoff, der an seiner Stirn, vor den Ohren und am Hals an der Haut festgeklebt war, herunter. Der Stoff und die künstlichen Narben, Geschwüre und Flecken waren schweißgetränkt und rochen säuerlich. Er legte das breite Stoffstück in eine wassergefüllte Schale, wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser, trocknete sich ab und murmelte: »Ein guter Tag, den Allah mir geschenkt hat.«
Yusuf knotete den Gurt auf, leerte seinen Beutel und zählte die Münzen. Dann streifte er den Burnus ab, reinigte seinen Oberkörper und legte die meisten Münzen in die Schale. Im Spiegel sah er das glatt geschabte Gesicht eines Vierzigjährigen. Er nickte sich zu, nahm ein Lämpchen und die Schale und stieg in das höher gelegene Stockwerk. Als er die Treppe zu seinem Schlafraum im zweiten Stock hinaufstieg, hinkte er nicht mehr.
Einige Kerzenflammen, am Ölflämmchen angezündet, erhellten einen kleinen Raum mit einem großen Fenster und schweren Vorhängen, einem gemauerten Bett und breiten, dunkel glänzenden Bodendielen. Unter einer gemauerten Bank zog Yusuf eine Truhe hervor, klappte sie auf und legte mit langsamen Bewegungen die größeren Münzen hinein. Die Truhe, zwei auf zwei Handbreit groß, war mehr als halb gefüllt. Yusuf klappte
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