Die geheimnisvollen Pergamente
Nachthimmel entlassen. Sie waren alle tot, verbrannt, erschlagen. Alle. Auch seine Eltern.
Er allein war davongekommen.
»Herr, Gott der Juden, warum hast du das zugelassen?«, ächzte er. Er drehte sich um und sah, dass er auf dem richtigen Kurs war, Richtung Süden. Das schwache Licht brannte irgendwo am gegenüberliegenden Ufer, vielleicht in Dingeisdorf. Zum eidgenössischen Ufer war es weit; er würde es wohl nicht schaffen. Die Heckspur des Bootes verlor sich in der rötlichen Dunkelheit, in der sich die fernen Flammen auf dem Wasser des Sees spiegelten. Er schien gerettet zu sein, jedenfalls für den Augenblick.
Elazar beruhigte sich mühsam. Niemand verfolgte ihn auf dem See. Seine Bewegungen wurden langsamer, aber er achtete darauf, dass der Widerschein der Flammen und das Licht am Ufer in gerader Linie zueinander standen und er sich auf dieser Linie bewegte. Es war eine mondlose, neblige Nacht, und alle Geräusche wurden von der Umgebung geschluckt. Elazar ruderte unablässig weiter.
Die Überlinger brachten den Leichnam des Kindes, den ein Holzfäller gefunden hatte, in die Stadt. Die Eltern erkannten ihren toten Knaben trotz der furchtbaren Wunden und des aufgedunsenen Körpers. Der Priester widersprach ihnen, als sie schrien, die Juden hätten den Jungen umgebracht. Sie begruben und betrauerten den Kleinen, und obwohl sich die Aufregung nach einigen Monaten gelegt hatte, blieben Hass und Misstrauen. Diejenigen, die bei den Juden die meisten Schulden hatten, schrien am lautesten.
Aber niemand tat den Juden etwas zuleide, vergriff sich an deren Töchtern oder Frauen. Die Juden wohnten nicht im Ghetto, nicht in einem jüdischen Viertel Überlingens, sondern über die ganze Stadt verteilt. Elazar war in Geschäften seines Vaters unterwegs und ritt über Land, und weil er sich heute verspätet hatte, lebte er noch.
Die Überlinger gingen den Juden aus dem Weg. Aber die Ruhe war trügerisch. Das zeigte sich rasch, als bald ein zweiter Junge vermisst und seine Leiche kurz darauf im Bach treibend gefunden wurde.
Der Körper des Jungen war von Wunden übersät, die durch schwere Prügel verursacht worden waren. Drei Frauen und der Müller sprangen ins Wasser und hoben den kleinen Leichnam heraus. Sie schleppten ihn wehklagend und schreiend durch die halbe Stadt zum Arzt. War es das Wetter oder das Wasser des Baches, die Bewegungen der Träger oder etwas anderes – aber vor einem Haus, in dem Juden wohnten, brachen die Wunden auf und sonderten wässriges Sekret ab.
»Die Juden sind schuld! Das ist der Beweis!«
Das Geschrei rief die Überlinger aus den Häusern. Sie strömten zusammen und schlossen sich der Menge an, die durch die Gassen zog. Wieder näherte er sich dem Haus eines Juden, eines Arztes, der sich anbot, den Leichnam zu untersuchen. Und wieder begannen einige Wunden zu bluten.
»Schlagt die Kinderschänder tot!«, schrie die Menge und tobte. Am Hals des Leichnams zeigte sich eine Wunde, die wie ein Schnitt aussah. Auch hier sickerte eine hellrote Flüssigkeit heraus.
»Sie haben das Kind geschächtet!«
Es gab genügend Besonnene, die versuchten, die Rasenden aufzuhalten, aber sie wurden niedergeschrien und überrannt. Das Aufbrechen der Wunden galt als Beweis. Ein Gottesbeweis schrie nach einem Gottesurteil. Einige Städter warnten die Juden vor der aufgewühlten Menge und beschworen sie, in Häusern aus Stein Zuflucht zu suchen.
»Kinderschänder! Kinderschächter! Zündet ihre Häuser an! Schlagt sie tot!«
»Sie haben unseren Herrn umgebracht. Jetzt vergreifen sie sich an unseren Kindern!«
»Lasst sie nicht ungeschoren davonkommen!«
Während die entfesselte Menge durch die Stadt rannte, brach die Dunkelheit herein. Fackeln wurden entzündet, als die ersten jüdischen Familien in einen der Rundtürme der Stadtmauer flüchteten. Er war bis auf den Dachstuhl, den man vor Jahren mit Stroh und Binsen eingedeckt hatte, aus Steinquadern und riesigen Bruchsteinen gemauert und konnte vermutlich tagelang verteidigt werden.
Junge Juden hatten sich mit allem, was sie packen konnten, bewaffnet, stürzten aus den Häusern und versuchten ihre Familien zu schützen. Fackeln flogen durch klirrende Fenster. Zuerst begann ein Haus zu brennen, dann ein zweites. Der Zug mit den Frauen, die den Leichnam trugen, war nun an der Kirche und am Gottesacker vorbeigegangen und näherte sich dem Stadttor. Von Angst getrieben, verließen einige jüdische Familien ihre Häuser und flüchteten in die
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