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Die geheimnisvollen Pergamente

Die geheimnisvollen Pergamente

Titel: Die geheimnisvollen Pergamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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gewaltige Funken taumelten durch die Nacht wie brennende Vögel. Die Säule gab ein brausendes Summen und Knistern von sich und wuchs mehr und mehr in die Höhe. Jetzt schlugen aus manchen Turmfenstern dicke Rauchschwaden, dann loderten gierige Flammen in den Nachthimmel.
    Zwischen Elazar und dem Hintergrund der dunklen Nacht bildete das Feuer eine Mauer aus flackernder Helligkeit. Würde man ihn verfolgen, sagte er sich, würde sich jeder Mann, jeder Reiter als bewegter Schattenriss abzeichnen. Die Einsicht in seine eigene Ohnmacht schmerzte sehr, aber was konnte er schon mit einem Dolch im Gürtel und einem zweiten im Stiefelschaft und seinen zwanzig Jahren gegen eine Stadt voller rasender Mörder ausrichten?
    Langsam ritt er weiter, auf das Ufer zu. Seine Gedanken überschlugen sich. Zurück nach Überlingen? Undenkbar. Sie würden ihn, den einzigen oder einen der wenigen Juden, die das Massaker überlebt hatten, ebenso erschlagen wie die anderen. Sein Vater kannte gute und erfolglose Geldverleiher überall auf der Welt, er kannte viele Gelehrte und viele andere Juden. Gut, sagte sich Elazar, dass der Vater ihm sein Notizbüchlein mitgegeben hatte. Wo lebte der nächste Freund? Dort wollte er hin. Aber zunächst musste er über die Grenze, zu den Eidgenossen. Wo wurden Juden nicht scheel angesehen und verfolgt? In Frankreich, bei den Italienern, im Heiligen Land?
    Wieder hielt er an und drehte sich um. Einige Feuer waren erloschen, aber der Turm brannte noch.
    Er sah winzige Gestalten und vermochte sich in grauenvoller Deutlichkeit vorzustellen, welche Szenen sich im Inneren des Turms abspielten. Das Holz im untersten Geschoss brannte lichterloh. Die Eingeschlossenen, die zunächst von Stockwerk zu Stockwerk geflüchtet waren, erreichten die Turmzinnen und begannen, brennende Balken und Waffen, Steine und Bretter auf die schreienden Gaffer hinunterzuschleudern.
    Einige Juden, die sich vor dem Feuer hatten retten können, taumelten aus dem Turmeingang hervor.
    Sie wurden von der wütenden Menge totgeschlagen und mit Beilen zerstückelt. Die Flammen erreichten das Dach, das wie ein riesiger Reisighaufen aufflammte. Voller Panik sprangen einzelne Juden zwischen den Zinnen hervor und brachen sich Genick, Schädel und sämtliche Knochen, als sie unten auf dem Boden aufprallten.
    Rings um den Fuß des Turms, in einigem Abstand wegen der gewaltigen Hitze, warteten die schreienden Überlinger. Noch immer brannte das Innere des Turms, noch waren darin Einzelne am Leben. Die meisten Juden im Turm waren erstickt und verbrannt; gewaltiger Gestank nach schmorendem Horn und Menschenfleisch breitete sich aus. Die gellenden Schreie aus dem Turm, dessen Dach in einzelnen Teilen durchsackte und nach innen fiel, ließen nach. Kurze Zeit später waren nur noch die Geräusche des Feuers und der Zerstörung zu hören – und das Knistern und Knacken, mit dem sich Risse und Sprünge im Mauerwerk ausbreiteten. Der rote Schein über der Stadt erlosch.
     
    »Sie sind alle tot. Nur ich bin übrig«, murmelte Elazar, wobei ihm die Tränen über das Gesicht rannen. Er ritt bis zum Ufer des Sees, und während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, fand er den Steg, an dem einige Fischerboote festgemacht waren. Sanfte Wellen schlugen leise an den Kieselstrand; der Januar war sehr mild, und es lag kein Schnee.
    Elazar zuckte mit den Schultern. Es musste sein. Es ging nicht anders. Er stieg aus dem Sattel und begann die schweren Satteltaschen abzuschnallen. Das Pferd musste er hier lassen, aber alles andere konnte er auf der Flucht gebrauchen, wenn auch nur als Ware zum Tauschen. Er schleppte Sattel und Satteltaschen und zuletzt den Ledersack mit seinem Proviant zu einem Boot, in dem zwei lange Ruder lagen.
    Dann löste er Trense und Zügel vom Kopf des Pferdes, hieb mit der flachen Hand auf die Kruppe und sah zu, wie das Tier unwillig im Dunkel verschwand. Elazar löste die Knoten der Taue, mit denen die anderen Boote festgemacht waren, sprang ins Boot und stieß es vom Steg ab.
    »Eines Tages komme ich mit Schwert und Feuer zurück, und dann rotte ich euch alle aus, mit Stumpf und Stiel!«, rief er verzweifelt und drohte mit der Faust in die Richtung der Stadt, in der er aufgewachsen war. Er begann langsam zu rudern, hielt inne und kühlte sein heißes Gesicht. Zügig entfernte er sich vom Ufer.
    Die Nacht verschluckte ihn und das Boot.
    Während er ruderte, beruhigte sich der Aufruhr in seinem Inneren. Er begann klarer zu denken und

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