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Die geheimnisvollen Pergamente

Die geheimnisvollen Pergamente

Titel: Die geheimnisvollen Pergamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Synagoge. Die meisten aber gehorchten dem Geschrei der wenigen Überlinger, die sie für ihre Beschützer hielten, und rannten zum Turm. Das Erdgeschoss des Bauwerks war voller Balken und Bretter, denn die Städter hatten sie dort gelagert, um im Winter den Turm auszubauen. Angst ging um, Furcht jagte die Juden in der Stadt hin und her.
    »Rennt zum Turm, zu den anderen! Wir schützen euch!«, schrie es aus den Gassen. Wieder begann ein Haus zu brennen. Das erste Haus, in das brennende Fackeln geworfen worden waren, brach bereits mit brennendem Dach in sich zusammen; aus den Türen und Fensterhöhlen schlugen Flammen, und Rauch wälzte sich durch die Vorgärten.
    Elazar ben Aaron sah die Flammen schon eine Meile vor der Stadt. Er hörte den Lärm und hielt sein Pferd an, als er verstand, was einige schrien. Furchtbare Angst packte ihn. Er hatte die Zinsen von zwei Dutzend kleiner Schuldner eingetrieben, deshalb waren seine Satteltaschen voller Münzen. Seine Eltern, die Schwester und das Brüderchen, die ganze Familie wohnte in der Stadt – lebten sie noch?
    Er entschied sich schnell. Elazar war braunhaarig und hatte goldfarbene Augen. Seine Kleidung war die eines Reisenden; er trug weder Schläfenlocken noch eine Kippa. Er spornte das Pferd, ritt durch das weit offene Stadttor und schlug im Trab den Weg zum Haus seines Vaters ein.
    Die Stadt hallte wider vom Geschrei und lauten Flüchen. Die Menschen waren geradezu besessen. Viele rannten ohne Ziel hin und her und beachteten den Reiter nicht. Immer wieder rannten jüdische Familien oder Gruppen an ihm vorbei, auf den wuchtigen Rundturm zu. Über den Dächern und durch Torbögen, über Plätze und durch die Gassen leuchteten die Flammen von einem Dutzend großer Brände. Überall brodelte grauer und schwarzer Rauch, den ein Uferwind nach Osten trieb. Durch den Rauch stolperten und torkelten einzelne Menschen, die laut schrien.
    Elazars Sorge um das Leben seiner Familie war einem lähmenden Schrecken gewichen. Ihm war nun klar, dass er zu spät kam, um sie zu retten. Er galoppierte über den Marktplatz, durch Rauch und Dampf, bog hinter der Schule nach rechts und sah, dass sein Elternhaus, das einen Steinwurf neben der Synagoge stand, lichterloh brannte. Sein Pferd scheute und hätte ihn beinahe abgeworfen.
    »Zu spät!«, schrie er panisch, riss das Pferd herum und ritt zurück. Fackeln flogen durch die Luft und in die Fenster anderer Häuser. Er ritt zum Stadttor, zum Rundturm, und auf dem Weg dorthin starrte er in jedes Gesicht. Manche der Flüchtenden erkannte er; von seiner Familie sah er jedoch niemanden. Sie sind bereits tot, dachte er verzweifelt.
    Er sah, wie die letzten Juden, die eben noch gerannt waren und in panischer Eile aus den Gassen hervorhasteten, im Turm verschwanden. Hinter ihnen her kamen Überlinger mit lodernden Fackeln, die sie über den ihren Köpfen kreisen ließen. Dann schleuderten sie die Fackeln vor den Eingang des Turms; dort flammten Heuhaufen und Strohballen auf und erfüllten das Innere mit Rauch und Funken. Gellende Schreie drangen aus den winzigen Öffnungen in den oberen Stockwerken, die mit Böden aus Balken, Brettern und Leitern eingeteilt waren.
    »Da ist noch einer!«, brüllte jemand hinter Elazar. Er war sicher, dass der Schrei ihm galt. Sofort hieb er dem Pferd die Sporen in die Seiten und trieb das auskeilende, schäumende Tier am Torturm vorbei durch das Stadttor.
    »Hinter ihm her!«
    »Jawohl, sie müssen alle sterben!«
    »Führt sie ihrer gerechten Strafe zu!«
    Heisere Stimmen geiferten hinter ihm her. Er sah schemenhaft die Straße, die sich hell gegen Gras und Strauchwerk abhob. Die Hufe des Pferdes schleuderten Sand und Steine nach hinten.
    Es musste etwas Furchtbares geschehen sein, das die gesamte Einwohnerschaft in Raserei versetzt hatte, sagte sich Elazar, der sich im Sattel vorbeugte und den Weg zu erkennen versuchte. Zweihundert-neunundachtzig Juden lebten in Überlingen.
    »O Herr!«, schrie Elazar und spürte nicht, dass bittere Tränen über seine Wangen liefen. Er blickte über die Schulter. Im Mauerwerk des Turms zeichneten sich die Öffnungen weiß, gelb und rot als kleine Vierecke ab. Flammen wüteten im Inneren.
    Er zügelte das Pferd und ritt langsam weiter. Die Schreie wurden leiser.
    Aber über einem großen Teil der Stadt schraubte sich eine dicke Säule schräg in die dunstige Nacht. Ihr Inneres war von Flammen wie von einem Flechtwerk aus Adern durchzogen. An den Rändern dampfte es weiß, und

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