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Die Geisel

Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G. M. Ford
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tappte barfuß zur Tür.
    »Ja«, sagte er durch die Tür.
    »Ich bin's, Melanie.«
    »Melanie wer?«
    »Hören Sie auf.«
    »Augenblick.«
    Corso zog seine Jeans von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. Sein Hemd hing in dem Schrank an der hinteren Seite des Zimmers. Zu weit weg für vier Uhr früh. So ging er mit nacktem Oberkörper zur Tür und machte auf.
    Melanie Harris. Im schwarzen Kaschmirmantel, ohne Schuhe. Zitternd stand sie im Wind und hielt den Mantel am Hals zusammen. Corso trat zurück und winkte sie herein.
    »Ich habe gesehen, dass bei Ihnen Licht war«, sagte sie, als sie an ihm vorbeiging.
    »Ich konnte nicht einschlafen«, gab er zu.
    Sie setzte sich auf die Bettkante und sah sich um. »Gemütlich«, sagte sie.
    Corso lachte. »Ja … Ich denke darüber nach, hier für meine nächsten Winterferien zu buchen.« Er holte den Sessel aus der Nische neben dem Nachttisch und stellte ihn neben das Bett. Bevor er sich hinsetzte, holte er noch sein Hemd und zog es über, ohne sich mit den Knöpfen aufzuhalten.
    Bis er wieder um den Fuß des Bettes herum war, hatte Melanie sich etwas ausgestreckt, hatte die Hände aufs Bett gestützt und sich ein wenig zurückgelehnt.
    »Also …«, sagte er vorsichtig, »was kann ich zu dieser unchristlichen Nachtstunde für Sie tun?«
    »Eigentlich, glaube ich, ist es schon Morgen.«
    »Zu dieser Morgenstunde«, verbesserte er lächelnd.
    Sie wandte verlegen den Blick ab. Ein Moment des Schweigens verstrich, bevor sie sagte: »Ich wollte nicht allein sein. Ich sehe immer noch das Gesicht der alten Frau vor mir.«
    Corso nickte verständnisvoll. Er setzte sich auf den Sessel und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Sie wird mich auch noch ein Weilchen begleiten«, gab er zu.
    »Ich kann einfach nicht anders, ich denke dauernd daran, dass wir schuld an ihrem Tod sind.«
    Corso schüttelte den Kopf. »Sie überschätzen unsere Bedeutung«, sagte er. »Wir hatten damit zu tun, aber wir sind auf keinen Fall dafür verantwortlich, zumindest nicht in dem Sinne, in dem ich Verantwortlichkeit verstehe. So wie ich das sehe, ist jeder von uns für sich selbst verantwortlich. Jeder von uns prägt seine eigene Beziehung zum Universum, und das bestimmt unser Schicksal.« Er legte die Füße aufs Bett. »Das hat viel mit Glück zu tun. Es ist so ähnlich wie etwas, was ich Driver einmal habe sagen hören, als er über Fische gelabert hat. Manche sind ausersehen, es bis zu den Laichgründen zurück zu schaffen, andere sind dazu bestimmt, Bären zum Opfer zu fallen, andere Adlern und wieder andere haben einfach nicht genug Substanz, um die Reise zu vollenden. Sie lösen sich einfach wieder im Wasser auf und nähren die Algen.«
    »Ich will aber nicht die Algen nähren«, sagte sie.
    »Das will niemand.«
    Sie schwiegen einen Moment. Es war angenehm.
    »Haben Sie schon den Fernseher eingeschaltet?«, fragte Corso schließlich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab mich nicht getraut.«
    »Wir sind überall«, erklärte er. »Live um sechs Uhr.«
    »Irgendwie erscheint mir das im Augenblick nicht wichtig.«
    »Ich habe darüber nachgedacht.«
    »Und?«
    »Vielleicht war das einer jener Augenblicke, wo wir nicht genug aufgepasst haben, was wir uns wünschen.«
    Sie ließ sich rücklings aufs Bett rutschen. »Wir haben überhaupt nicht aufgepasst«, sagte sie. »Wir …« Sie wischte den Gedanken weg und legte dann die Hand über die Augen.
    Er hörte sie hastig einatmen, doch bevor er sicher sein konnte, übertönte der Lärm eines Lastzugs, der sich im ersten Gang über den Pass quälte, jegliche Geräusche im Zimmer. Als das Röhren des Motors verebbte und nichts mehr außer dem Wind zu hören war, wurde ihr Weinen hörbar. Corso saß still da und starrte auf die Zigarettenlöcher in den hölzernen Armlehnen des Stuhls. Ihre wenigen Tränen kamen in kurzen Stößen; wütend und traurig entkamen sie ihren Augen wie widerwillige Flüchtlinge.
    Corso wartete auf eine Flaute. »Kann ich irgendwas tun?«, fragte er.
    Zuerst schüttelte sie den Kopf. Und dann, mit einer Stimme, die er noch nie gehört hatte, sagte sie: »Vielleicht wär's gut, wenn mich mal jemand in den Arm nimmt.«
    »Kommen Sie her«, sagte er.
    Kurz darauf standen sie neben dem Bett und hielten einander in den Armen. Dieser Trost gab Melanie Harris die Kraft, alles herauszulassen. Ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt; ihre Tränen rannen über Corsos nackten Brustkorb. Corso hielt sie fest und wartete drauf,

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