Die Geisel
sofort.
»Was?«
»Stopp«, sagte der Mann noch einmal.
Ray steuerte den Lastwagen von der Straße und bog in den verlassenen Parkplatz des Sierra Motor Inn ein. Vielleicht zwei Dutzend einzelner Hütten in einem kleinen Kiefernwäldchen verstreut. Der Laden hatte schon für den Winter dichtgemacht.
Ray hielt den Fuß auf der Bremse und drehte sich zu dem Typen um. »Sie haben nicht genau gesagt, wo Sie hinwollen. Ich hätte nie gedacht, dass Sie … Wissen Sie … Jenner Peak.«
Doch es war schon zu spät. Der Tramper war schon auf den Boden gesprungen, samt Taschen und allem. »Danke«, sagte er noch einmal und warf die Tür zu.
Ray sah ihm im Spiegel nach, wie er mit einer schwarzen Nike-Tasche in jeder Hand den Highway überquerte und rüber zum Ski Chalet Motel ging. Als der Typ hinter einem riesigen alten Wohnmobil verschwand, das am Rand des Parkplatzes abgestellt war, verlor Ray das Interesse. Er nahm den Fuß von der Bremse, schaute in beide Richtungen und gab dem alten Mädchen so viel Gas, wie er sich traute. Hörte sich an wie Samba-Rasseln.
39
Das Klopfen war anfangs zögerlich – nur ein einziger Fingerknöchel. Corso stöhnte und rollte sich herum. Es verstummte. Corso hielt die Augen geschlossen und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass das Geräusch in seinen Traum gehörte. Dann ertönte es abermals. Lauter diesmal. Eine flache Hand, die an die Tür klatschte. Vorsichtig machte er ein Auge auf. Der Lärm hatte auch Melanie Harris aufgeweckt. Sie war nackt, wie eine Weinrebe um ihn geschlungen, halb unter, halb über der Bettdecke, und stützte sich jetzt mit verquollenen Augen auf einen Ellbogen.
»Nicht aufmachen«, flüsterte sie.
Corso rollte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Das Klopfen begann erneut, fordernder diesmal. »Ja doch«, brüllte Corso.
»Ich bin's, Marty«, kam es durch die Tür.
Corso rollte sich herum und schlang die Arme um Melanie. Er zog sie an sich. Sie küsste ihn aufs Ohr. »Wir können ihn nicht einfach da draußen stehen lassen«, flüsterte sie.
»Komme gleich«, brüllte Corso über die Schulter. Er küsste sie zwischen die Augen und dann auf den Mund. »Willst du, dass ich ihn reinlasse?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Willst du dich im Badezimmer verstecken oder so was?«
Sie dachte kurz darüber nach. »Kommt mir ein bisschen antiquiert vor«, meinte sie. »Außerdem … Marty darf dazu sowieso nichts sagen.«
Corso lächelte. Er stand auf, wühlte in dem Haufen Bettwäsche am Fußende herum, fand sein Hemd und seine Jeans und zog sie über.
Er öffnete die Tür einen Spalt weit. Martin Wells sah aus wie der Zorn Gottes. Sein glattes, gebräuntes Hollywood-Gesicht hatte jedes Jahr wieder aufgeholt, das sein Schönheitschirurg so sorgsam daraus entfernt hatte. Die Falten waren so tief, dass man einen Vierteldollar darin hätte versenken können. Er trug dasselbe gestreifte Hemd, das er am Abend zuvor angehabt hatte. Es war vorn mit Dreck und Spucke befleckt, und irgendwo hatte er den zweiten Knopf verloren.
»Was ist los?«, fragte Corso.
»Ich kann Melanie nicht finden. Ich hab's auf dem …«
»Es geht ihr gut«, versicherte ihm Corso.
Hinter seinem Rücken ertönte Melanies Stimme: »Lass ihn rein.«
Corso machte einen Schritt zurück. Marty zögerte einen Augenblick, dann trat er über die Schwelle. Er ließ einen amüsierten Blick zwischen Corso und Melanie hin- und herwandern. »Na so was …«, sagte er lächelnd. »Was haben wir denn hier?«
Melanie sah peinlich berührt aus. »Fang bloß nicht so an, Marty. Du musst gerade reden.« Und zu Corso gewandt: »Marty betrügt sogar seine Geliebte.«
Marty schien tief getroffen. »Ein Mann in meiner Position braucht ein bisschen was zum Ausgleich.«
Corso musterte den kleinen Mann von oben bis unten. »Sie haben zwei Geliebte?«
»Stephanie – das ist meine Frau – hat die Sache mit Janice rausgefunden.« Er zuckte die Achseln. »Danach war die Luft raus.« Er sah sie beide wieder an. »Also?«
Melanie wechselte das Thema. »Also, was ist mit dem Material von letzter Nacht passiert?«
Jetzt war Marty mit Unbehagen dran. »War ein bisschen mehr, als wir vorgehabt haben, was?«
»Frank sagt, es war überall.«
»Wie Frank anscheinend auch.«
»Hör auf!« Sie versuchte wütend zu klingen, schaffte es jedoch nicht ganz.
»Hundertfünfundfünfzig Kanäle landesweit. Wir kriegen eine Menge Anrufe und E-Mails. Es steht ungefähr zwei zu eins für
Weitere Kostenlose Bücher