Die Geisel
fallen lassen. Während sie wartete, dass er alles wieder auf die Reihe bekam, hörte sie die Frauenstimme im Hintergrund – klar und deutlich wie der lichte Tag. Nur dass es nicht Tag war.
»Wer ist das, Bri?«, fragte die schläfrige Stimme.
Sie hörte wieder seinen Atem, als er den Hörer zurechtrückte.
»Hallo«, sagte er.
Melanie drückte mit dem Daumen die Auflegetaste. Sie rang nach Luft, rieb sich mit dem Arm über die Nase, dachte, sie würde gleich weinen … Doch die Tränen kamen nicht. Stattdessen legte sie sich rücklings aufs Bett und starrte auf die billige Lampe an der Moteldecke. Sie schwang die Beine auf die Tagesdecke, schloss die Augen, und die Ereignisse der vergangenen acht oder neun Stunden flackerten wie ein schlechter Film im schnellen Vorlauf vor ihrem geistigen Auge vorüber.
Der Rettungswagen hatte knapp eine Stunde gebraucht, um Doris Green zu erreichen. Die County Police war fünf Minuten danach eingetroffen. Marty und Corso hatten die Wiederbelebungsmaßnahmen die ganze Zeit fortgesetzt, bis sie schließlich doch aufgeben mussten. Sogar als ihre Lippen blau und kalt geworden waren, hatten sie noch geglaubt, ihr wieder Leben einhauchen zu können. Erst die eintreffenden Rettungshelfer hatten sie davon überzeugt, dass nichts mehr zu machen war. Zu diesem Zeitpunkt war Marty bereits so erschöpft gewesen, dass er kaum noch die Arme heben konnte. Als sie abfahren wollten, musste Corso ihm zurück ins Wohnmobil helfen.
Als sich die ganze Aufregung gelegt hatte und Doris Green von ihrem Berg herunterbefördert worden war, waren sie hundertzehn Kilometer zurückgefahren, in einen Ort namens Jenner Peak, ein Bergdörfchen, das dicht genug am Mountain-West-Skigebiet lag, um über ein halbes Dutzend günstiger Motels zu verfügen, von denen zwei das ganze Jahr über geöffnet hatten. Seit halb elf hatten sie sich in den Zimmern drei, vier und sieben des Ski Chalet Motor Inn verkrochen.
Ihr war zu kalt gewesen, und sie hatte sich innerlich zu leer gefühlt, um zu schlafen. War die ganze Nacht ins Bad und wieder zurückgewandert. Und jetzt … Jetzt fühlte sie etwas anderes. Etwas, das sie seit langem nicht mehr empfunden hatte. Seit Samanthas Tod nicht mehr. Dieses Gefühl des Losgelöstseins, dieses Gefühl, inmitten des geschäftigen Treibens anderer Menschen und anderer Dinge, die gleichermaßen einzigartig waren, ganz allein auf dem Planeten zu sein. Sie fragte sich, wie weit ihr Zynismus schon reichte, dass nicht einmal ihr Anruf bei Brian sie zum Weinen bringen konnte; und im selben Augenblick wusste sie die Antwort. Es war, weil sie alles, was sie zu verlieren gehabt hatten, bereits vor langer Zeit verloren hatten; es war bäuchlings in einen überfrorenen Straßengraben in Grand Rapids, Michigan, geschleudert worden, zusammen mit dem Rest ihrer Hoffnungen und Träume.
Ihr war, als sei ihr Leben von diesem Augenblick an nur noch Überleben gewesen. Nicht mehr als ein leckgeschlagenes Boot und ein blindes Bedürfnis, nicht unterzugehen.
Wieder versuchte sie zu weinen, und wieder brachte sie es nicht fertig.
38
Corso war hellwach, als es klopfte. Er war zwar ein paarmal eingenickt, doch war ihm alles, was auch nur im Entferntesten an Ruhe erinnerte, versagt geblieben. Das war ungewöhnlich, weil die Auswirkungen der Launen von Leben und Tod normalerweise eher leicht von ihm abfielen. Zu leicht, dachte er oft in seinen nachdenklicheren Momenten, wenn er sich fragte, ob seine Fähigkeit, im Angesicht der Tragödie einfach weiterzumachen, nicht doch eine Unfähigkeit war, Gefühle zu empfinden. Wo andere betäubt dastanden und unfähig waren, irgendetwas anderes zu tun, als den Sinn der Welt zu hinterfragen, hatte Corso immer tief Luft holen und weitermachen können. In Augenblicken, in denen er sich selbst gegenüber etwas milder gestimmt war, schrieb er seine Widerstandskraft den Schrecken zu, deren Zeuge er als Reporter geworden war, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass er schon immer so gewesen war, so lange er sich erinnern konnte. Dann fiel ihm ein, wie er mit neun Jahren beim Begräbnis seiner Großmutter mit trockenen Augen inmitten des allgemeinen Wehklagens und Händeringens gestanden und sich seltsam losgelöst gefühlt hatte; er hatte sich gefragt, ob er in den Trauerchor einfallen sollte, und gleichzeitig mit absoluter Sicherheit gewusst, dass irgendetwas in seinem Wesen es ihm unmöglich machte, seine Gefühle so auszudrücken.
Er erhob sich vom Bett und
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