Die Geisel
dass der Sturm nachließ. Anscheinend hatte sie irgendwo in ihrem Inneren eine Menge Tränen auf Lager, daher dauerte es eine ganze Weile. Es war schließlich so, als ginge ihr eher die Kraft aus als die Tränen. Als sie aufhörte zu zittern, hatte Corso das Gefühl, sie länger in den Armen gehalten zu haben, als er jemals jemanden umarmt hatte. Er flüsterte ihr ins Ohr: »Wissen Sie …«
»Nein«, sagte sie und löste sich ein wenig aus seiner Umarmung. Und küsste ihn, mitten auf den Mund, ein Kuss, dessen Absicht die Luft erfüllte wie ein anschwellender Ton. Er schob sie auf Armeslänge von sich weg. »Bist du sicher?«, fragte er. Sie küsste ihn abermals, und sie waren sich beide sicher.
»Ich dachte, du wärst in festen Händen.«
»Das ist Algenfutter«, sagte sie, trat näher an ihn heran und schob die Hände unter sein Hemd, streichelte seinen Rücken und zog ihn noch näher an sich heran. »Wir sind auf der Strecke geblieben.«
Bevor er antworten konnte, hatten ihre Finger ihren Mantel halb aufgeknöpft. Corso sah es kommen. Den Augenblick, da es kein Zurück mehr geben würde. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es stellte sich heraus, dass der Mantel das Einzige war, was sie anhatte. Beim Anblick ihres nackten Körpers blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Er spürte den heißen Blutschwall und wusste, dass manche Dinge sich niemals änderten.
Ray Lofton fuhr seine Tour jeden Samstagmorgen, bei jedem Wetter. Da er als jüngerer Mitarbeiter einen niedrigen Platz in der Rangordnung innehatte, musste er natürlich die Wochenenddienste übernehmen. An einem guten Tag konnte er in drei Stunden wieder im Büro sein. Wenn es schneite, musste er Schneeketten aufziehen. Bei Schnee brauchte er den ganzen verdammten Tag. Dieses Jahr hatte sich der Sommer lange gehalten, hatte die schrägen Strahlen des Indian Summer bis in den Oktober hinein auf die Bergwiesen geschickt und Ray das Leben deutlich erleichtert. Die Firma, für die er arbeitete, war vertraglich verpflichtet, den Müll auf dieser Seite des Passes abzuholen. Einmal in der Woche ließen sie ihn den altersschwachen Müllwagen den Pass hinauffahren und auf dem Rückweg alles einsammeln.
Mary, die Disponentin, hatte gesagt, er solle es so herum machen, als er zum ersten Mal aufgebrochen war – von oben nach unten. Doch Ray, der noch nie gern Anweisungen befolgt hatte, hatte sich gedacht, dass er im Vorbeifahren genauso gut schon einsammeln konnte, was am Straßenrand stand. Was er erst später entdeckte, war, dass der alte Laster die Steigung nur leer bewältigen konnte. Er hatte zurückkehren, ausladen und dann wieder den Pass hochfahren müssen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit war er zurückgekommen und hatte sich dann auch noch reichlich dumme Bemerkungen von jedem Einzelnen in der Firma anhören dürfen.
Die Steigung war immer steiler, als sie aussah. Ray Lofton schaltete in den dritten Gang herunter. Der alte Wagen protestierte röhrend; die Windschutzscheibe zitterte, bis sie ein Geräusch von sich gab wie ein Tamburin. Der Typ auf dem Beifahrersitz griff nach vorn und legte eine Hand aufs Armaturenbrett, als wollte er den Lastwagen davon abhalten, unter seinen eigenen Vibrationen in Stücke zu zerfallen.
»Keine Sorge«, rief Ray über das immer lauter werdende Getöse hinweg. »Sie schafft es. Tut sie immer.«
Der Kerl warf ihm ein unsicheres Lächeln zu und stemmte sich noch fester ab. Ray Lofton unterhielt sich gern, das war auch der Grund, weshalb er immer Tramper mitnahm, wenn sich die Gelegenheit ergab. Einfach nur, um jemanden zum Reden zu haben. Aber dieser Typ … Dieser Typ war mit Worten so freigebig wie andere Leute mit Geld. Hätte er das vor einer Stunde gewusst, hätte er ihn nicht aufgegabelt.
Der Typ hatte ihm leidgetan, wie er da draußen im Wind stand und den Daumen raushielt, mitten in der Nacht an einer Straße, auf der um diese Jahreszeit niemand vorbeikam. Also hatte er ihn mitgenommen. Der Mann hatte ihm nicht mal seinen Namen gesagt. Hatte nur seine Sporttaschen in den Fußraum geworfen und Ray fürs Mitnehmen gedankt. Und seitdem keinen Pieps gesagt. Einfach nur dagesessen und geradeaus gestarrt.
Deshalb … war Ray nicht besonders traurig, als sich der Kerl auf halbem Weg den Pass hinauf plötzlich im Sitz nach vorn warf, den Straßenrand musterte, als wäre er voller nackter Cheerleader, und »Stopp!« rief.
Ray, der ebenfalls mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt war, reagierte nicht
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