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Die Geisel

Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G. M. Ford
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Stunde zusätzlich. Bis er wieder in der Firma war, wäre der Rest des Tages längst Geschichte. Er kickte ein Steinchen weg und sah ihm nach, wie es unter der Leitplanke hindurchrollte und über den Rand der Bankette verschwand. Die Aussicht ließ ihn innehalten.
    Der Ostwind hatte heute verhindert, dass der Smog aus L.A. in die Cañons aufstieg. Die Luft war frisch und sauber. Von seinem Standort aus konnte er die südlichen Ausläufer der Sierra Nevada sehen, jene knorrige Wirbelsäule, die sich beinahe über die gesamte Länge der Staatsgrenze zog. Von hier aus konnte man sich gut vorstellen, wie die Kontinentalplatten sich aneinander rieben und die pazifische Platte hinab in die Eingeweide der Erde gedrückt wurde, tief hinunter in den Ozean aus geschmolzenem Magma, während die nordamerikanische Platte hochgehoben und westwärts verschoben wurde. Ray lächelte und setzte sich auf die Leitplanke. »Wer kann schon an so einem Tag sauer sein?«, fragte er sich.
    Corso stellte die Frühstückstüten rechts neben die Tür auf den betonierten Gehweg. Der Duft von frischem Kaffee stieg ihm in die Nase, während er in die Hosentasche griff. Seine Hand zitterte, als er den Zimmerschlüssel herausfischte und ihn ins Schloss steckte. Er stellte sich seitlich zur Tür, als er sie aufdrückte, und lugte in den Raum hinein.
    Von hier aus schien alles mehr oder weniger so, wie er es verlassen hatte. Nur dass Melanie weg war. Langsam trat er ein und suchte nach Anzeichen von Eile oder Verzweiflung. Die Luft im Zimmer roch noch nach ihr. Nach Parfum und Bodylotion und was immer sie für Öle und Cremes benutzte. Ihr Mantel lag auf dem Fußboden. Demnach war sie, wo immer sie hingegangen war, nackt. Corso stieß die Badezimmertür auf. Leer. Er wusste nicht, ob ihn das erleichterte oder ihm Angst machte.
    Und dann kam er sich auf einmal lächerlich und melodramatisch vor. Da stand er wie ein Vorstehhund, der Witterung aufgenommen hatte. Vielleicht … war es … Vielleicht hatte sie … Doch egal, wie sehr er sich auch bemühte, er schaffte es nicht, den Satz zu Ende zu bringen. Allmählich stieg das Kribbeln der Angst wieder in ihm hoch.
    Schnell ging er wieder hinaus, wandte sich nach rechts und lief auf Martys Zimmer und das Motelbüro zu. Die Tür zu Zimmer Nummer sieben stand sperrangelweit offen. Corso konnte die Dusche rauschen hören. Er trat ein und rief Martys Namen, und dann noch einmal, lauter.
    Corso rannte durchs Zimmer und stieß die Badezimmertür auf. Die Dusche lief auf Hochtouren, aber die Kabine war leer. Corso griff hinein und drehte das Wasser ab. Der Boden schwamm vor Seifenwasser.
    Jetzt beeilte er sich. Zurück durch das Zimmer zur Tür. Ein schneller Blick nach links jagte ihm einen weiteren Schauer über den Rücken. Auf dem kleinen Tisch an der Tür lagen Martys Handy, eine Handvoll Kleingeld, der Zimmerschlüssel und die Schlüssel des Mietwagens. Martys Jackett war über die Sitzfläche des Sessels geworfen, weil der Stuhl schon mit Hemd und Hosen belegt war. In Corsos Kopf drehte sich alles, während er verzweifelt versuchte, diesem Szenario einen Sinn zu geben, und kläglich scheiterte. Er ging zu dem Tischchen und nahm das Handy und die Fahrzeugschlüssel an sich, steckte sie in seine Jackentasche und begann, seine Kleidung abzuklopfen auf der Suche nach der Visitenkarte, die er am Vortag in eine seiner Taschen gesteckt hatte.
    Er fand sie in der hinteren Jeanstasche, zog das Handy heraus und begann, die Nummer zu wählen. Nichts. Keine Balken. Kein Empfang. Fluchend wischte er das Kleingeld vom Tisch. Dann joggte er zur Telefonzelle, klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr und wählte die Nummer. Eine elektronische Stimme teilte ihm mit, dass die Gebühr einen Dollar neunundfünfzig für drei Minuten betragen würde. Er warf die Handvoll Kleingeld auf das blanke Metallregal unter dem Telefon und sortierte mit dem Zeigefinger zwei Münzen aus.
    Als er die erste Münze zum Einwurfschlitz hob, fiel ihm ein weißes Aufblitzen im Gestrüpp auf. Er schloss die Hand um die Münze und hängte den Hörer wieder ein. Sein Körper kribbelte, seine Beine waren schwer und fühlten sich an wie Pudding, als er die sechs Meter zurücklegte.
    Einen Augenblick stand er da und schaute nach unten. Dann ließ er sich auf ein Knie sinken. Handtücher. Zwei weiße, ungekennzeichnete Handtücher, grob und rau, wie man sie aus einer öffentlichen Wäscherei zurückbekam. Er hob eines hoch. Hielt es sich vors

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