Die Geisel
verraten. In den letzten Monaten hatten sie alle mehr als genug unter Beobachtung gestanden. Alles nur wegen dieser verfluchten Angelegenheit - eine Angelegenheit, die einen gefährlichen Scheinwerfer auf ihre Aktivitäten gerichtet hatte. Er spürte, dass die Sache an seinen Nerven zehrte. Seine Führungsposition kostete ihren Tribut. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr Kreis schon einmal so sehr Gefahr lief, entdeckt zu werden. Was in ihren Reihen für Unruhe gesorgt hatte. Es war betrüblich, wie erwachsene Männer in Panik gerieten, sobald die Lage brenzlig wurde. In der Regel waren es die Leute in den machtvollsten Positionen, die zuerst die Nerven verloren. Sie waren die reinsten Waschlappen, und er wusste, dass sie sofort einknicken würden, wenn sie jemals unter Druck gerieten. Auf der anderen Seite machte ihre Position sie zu unentbehrlichen Mitgliedern. Sie verfügten über den nötigen Einfluss, um den Kreis zu schützen. Aber er traute keinem von ihnen. Nur eines wusste er mit Sicherheit: dass man stets mit dem menschlichen Trieb rechnen konnte. Auf den war immer Verlass. Stellte man den zufrieden, herrschte Ruhe in den eigenen Reihen.
Er streckte sich im Stuhl, weil seine Lendenwirbel schmerzten. Er zog sein Handy aus der Tasche und überprüfte die Uhrzeit. Es ärgerte ihn, dass der Anruf auf sich warten ließ. Im geschlossenen Büro war es viel zu warm, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Im Grunde war es ein furchtbarer Sommer gewesen. Ungefähr ein Fünftel ihrer Lieblinge war liquidiert worden. Getötet von diesem Psychopathen. Die Anzahl war nicht so wichtig, sie wurden bereits durch andere Jungen ersetzt. Das Paradoxe an der Situation bestand darin, dass er Søren schon als Kind begegnet war. Er konnte sich schwach daran erinnern, dass er ein sonderbarer Junge gewesen war. Beschwerlich. Unmöglich abzurichten. Es ärgerte ihn, dass er nicht selbst misstrauisch gegen Søren geworden war. Doch wenn er ehrlich war, so hatte er ihn mehr oder weniger vergessen. Es hatte so viele Jungen seitdem gegeben. Søren musste sie in letzter Zeit beobachtet, ihren Kreis und ihre Lieblinge ausspioniert haben. Das war die einzige Erklärung. Dass er der Polizei nichts verraten hatte, war reines Glück. Aber ein Glück, auf das sich niemand von ihnen allzu lange hatte verlassen wollen.
Eigentlich hatte Sørens Ermordung die Stärke der Organisation unter Beweis gestellt. Es hatte des großen Einsatzes vieler Personen bedurft, um die Operation durchzuführen. Und Dubowitz hatte sich heroisch bereit erklärt, den Henker zu spielen. Der Serbe gehörte zu den wenigen Menschen, die er respektierte, obwohl er zugleich einer der größten Psychopathen war, die er je kennengelernt hatte. Im Grunde hatte er es hinter Gittern am besten. Zusammen mit seinem ebenso durchgeknallten Bruder, seinen Drogen und dem beständigen Strom frischer Jungs.
Das Handy brummte in seiner Hand. Er hob ab. »Ist die Verbindung sicher?«
Er hörte ein mehrfaches Klicken, während die Verschlüsselung des Gesprächs eingeleitet wurde. »Ja«, hörte er eine leicht verzerrte Stimme am anderen Ende.
»Was ist passiert?«
»Es sind Ermittlungsunterlagen gestohlen worden.«
»Welche?«
»Alle. Alles, was mit Søren Rohde zu tun hat, ist vom Revier verschwunden.«
»Wissen wir, wer dafür verantwortlich ist?«
»Katrine Bergman … und diese Ärztin.«
Er atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, warum man die ganze Sache nicht längst in einem riesigen Loch begraben hatte. »Warum rufst du mich an, statt selbst etwas zu unternehmen? Es ist doch wohl klar, was jetzt passieren muss.«
Am anderen Ende war es still.
»Sieh zu, dass du die Sachen zurückholst!«, rief er. »Wenn sie nicht mehr auf dem Revier sind, dann lass sie verschwinden, sobald du sie gefunden hast.«
»Und was machen wir mit den beiden?«
Er zögerte mit einer Antwort. Am liebsten hätte er gesagt, er solle sie zur Hölle schicken, aber ihr Kreis konnte sich im Moment keinen zusätzlichen Wirbel erlauben. »Wissen wir, warum sie die Akten gestohlen haben?«
»Nein, sie sind einfach aufs Revier gekommen und haben die Kartons mitgenommen.«
Er lehnte sich nachdenklich zurück. Obwohl die Tage von Katrine Bergmann im höheren Dienst gezählt waren, verstand er nicht, warum sie sich auf so etwas einließ. Was sie tat, war ein schwerwiegendes Dienstvergehen. Wollte sie rehabilitiert werden? Wollte sie sich rächen? Gab es Dinge,
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