Die Geisel
die noch nicht aufgeklärt waren? In dieser Hinsicht fiel ihm nur eines ein: Das Schicksal des armen Timmie war immer noch ungewiss. Suchten sie etwa nach ihm? In diesem Fall konnte die Initiative nicht von Katrine Bergman ausgegangen sein. Hatte diese kleine Ärztin wirklich so viel Einfluss? Vielleicht hatte er sie unterschätzt - unterschätzt, was der Verlust des eigenen Kindes bei ihr ausgelöst hatte. Ihren Mutterinstinkt. Der konnte ihnen allen lebensgefährlich werden. Sie war nicht dumm. Sie hatte das Buch gefunden, nach dem alle anderen vergeblich gesucht hatten. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Oberlippe trat. War sie womöglich auch in der Lage, Timmie zu finden? »Wie sicher ist es, dass Timmie tot ist?«
»Davon können wir ausgehen.«
»Nein, können wir nicht. Wir müssen hundertprozentig sicher sein. Timmie hat zu viele Gesichter gesehen, auch deins. Wir können es uns nicht leisten, dass er plötzlich wie durch ein Wunder wieder auftaucht.«
»Dass er noch lebt, ist so gut wie ausgeschlossen. Wir haben ihn überall gesucht. Und falls er doch noch auftaucht, warum sollte er dann irgendwas erzählen? Das hat schließlich auch keiner von den anderen Jungs getan.«
»Weil wir ihn nicht steuern können. Dann wird er in psychiatrische Behandlung kommen, womöglich außerhalb unserer Reichweite. Er wird sich erholen, zu reden beginnen …«
»Scheiße …«
»Ja, Scheiße!«
»Was tun wir jetzt?«
Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe. »Wir tun das, was notwendig ist. Im äußersten Fall machen wir es so wie Dubowitz.«
Er schaltete sein Handy aus und steckte es sich wieder in die Tasche. Mit dem äußersten Ende seiner Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen. Es tat ihm gut, wie kleine, liebkosende Finger. Er konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal mit einem der Jungen zusammengelegen hatte. Die Früchte all der Arbeit geerntet hatte. War es das, was alle Chefs und Anführer fühlten? Die unumschränkte Macht und so wenig Zeit, um sie zu genießen?
Es waren diese Neopuritaner, die mit ihrer selbstgerechten Hexenjagd alles kaputtgemacht hatten. Die sie gezwungen hatten, all diese Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, als wären sie gemeine Kriminelle. Die Neopuritaner ließen außer Acht, dass es die Knabenliebe schon immer gegeben hatte, seit der griechischen Antike, der Wiege unserer Zivilisation. Große Männer wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Oscar Wilde und André Gide hatten sich der Knabenliebe hingegeben. Ihr Recht eingefordert.
Er atmete tief ein und stieß die Luft durch die Nase aus. Es waren die gleichen Neopuritaner, die eine Verschärfung der Pornographiegesetze erreicht hatten. Als man die Pornographie in den siebziger Jahren legalisierte, gab es jahrelang nicht die geringsten Restriktionen. Sex war Sex. Ob der nun zwischen Erwachsenen oder zwischen Erwachsenen und Kindern vor sich ging. Kinderpornographische Filme und Fotos waren legal und frei zugänglich. Er besaß immer noch ein paar Schmalfilme von damals, die einen gewissen Sammlerwert hatten. Antike Sachen. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Allein wegen dieser Filme konnte er festgenommen und an den Pranger gestellt werden. Das war lächerlich und entbehrte jeder Relation.
Und nun wurden sie von den Neopuritanern auch noch beschuldigt, die Kinder zu traumatisieren. Das war eine verdammte Lüge. Sie trennten nur die Starken von den Schwachen. Ließen sie reifen, damit sie dem Leben später gewachsen waren. Das forderte natürlich gewisse Opfer, aber nicht mehr als in vielen anderen Bereichen des Lebens. Wenn es jemand gab, der die Jungen traumatisierte - ja, sie alle zusammen -, dann waren es die Neopuritaner mit ihrer Hexenjagd. Denn wurden die Kinder nicht vor allem dadurch traumatisiert, dass man ihre sozialen Bindungen kappte, sie zwang, intime Details zu erzählen, das Strafrecht auf sie anwandte und sie zu erbärmlichen Opfern machte?
Er öffnete die Schreibtischschublade und tastete nach der Flasche mit dem Single Malt sowie dem dazugehörigen Glas. Er füllte das Glas, bis es überschwappte. Der Whisky duftete herrlich. Er leerte das Glas in einem Zug und genoss das sanfte Brennen in der Kehle.
Offenbar hatte er sich zu früh gefreut. Dabei waren sie gerade erst wieder richtig in Gang gekommen. Ein paar einflussreiche Kandidaten waren vom Rat empfohlen, neue Jungen ausgewählt worden. Auch die Räumlichkeiten standen bereit, schallisoliert,
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