Die Geisel
Familienfoto, das Tom mit seiner Frau und ihren Zwillingssöhnen zeigte. Auf dem Regal hinter dem Schreibtisch lagen drei Dienstmützen mit FBI-Logo fein säuberlich in einer Reihe. »Der hat sich ja schon häuslich eingerichtet«, sagte Katrine trocken.
Maja nickte. Sie verstand, wie schwer es für Katrine sein musste, ihr altes Büro wiederzusehen.
»Allerdings ist er noch nicht dazu gekommen, meine Hinterlassenschaften in den Keller zu verfrachten.« Katrine zeigte auf zwei Umzugskartons, die an der Wand standen. Aus einem Karton schauten die zusammengerollten Übersichtskarten und Plakate heraus wie verwitterte Zweige.
»Was ist da drin?«, fragte Maja mit neugierigem Blick.
»Alles«, antwortete Katrine. »Das hier ist der gesamte Fall. Fundorte, Vernehmungsprotokolle, Listen von Verdächtigen, Obduktionsberichte, Auflistung der Beweisstücke, Zeugenaussagen, Fotos von den Tatorten, Fotos der Opfer.« Sie holte tief Luft. »Wie gesagt, einfach alles.«
Maja lächelte und nickte. »Hört sich gut an.«
»Wonach suchen wir denn?«
Maja zuckte die Schultern. So ganz genau wusste sie es nicht. Sie hatte nicht mehr als ein paar vage Vermutungen. Dennoch war sie davon überzeugt, dass sich die Antwort auf die Frage nach Timmies Versteck in einer dieser beiden Kisten befand. Sie stellte sich direkt davor. »Was ist mit den Unterlagen über die Opfer?«
»Die sind auch da drin.«
»Der Presse zufolge haben sich die Opfer nicht gekannt, ist das richtig?«
»Ja, das stimmt.« »Abgesehen davon, dass sie ungefähr das gleiche Alter hatten, gab es also keine Gemeinsamkeiten? Ich denke an Hobbys, Sportvereine oder andere Aktivitäten.«
Katrine schüttelte den Kopf. »Wir haben alles untersucht. Die einzige Gemeinsamkeit war ihr Kontakt zu Søren.«
»Und die Tatsache, dass sie sexuell missbraucht wurden, was man jedoch erst nach ihrem Tod festgestellt hat«, sagte Maja und ging in die Hocke. Sie klappte den Deckel des ersten Kartons auf. Die Fotos von der Klosterwiese lagen ganz oben. Johnnys Sohn, der im Baum hing. Es würde schwerer sein, diese Dinge zu sichten, als sie anfangs geglaubt hatte.
»Aber hast du denn überhaupt keine Idee, wonach wir eigentlich suchen sollen?«, fragte Katrine ungeduldig.
Maja zuckte die Schultern. »Nach einem Muster, das bis jetzt von niemandem erkannt wurde.«
»Und das heißt?«
Maja blickte zu ihr auf. »Ich glaube, das Rätsel von Timmies Versteck ist genauso einfach zu lösen wie das Rätsel, das Søren uns gestellt hat und das dazu führte, dass wir sein Buch gefunden haben. Es muss irgendwie mit Peter Pan zusammenhängen, mit der Art und Weise, wie Søren die Jungen getötet hat, und vielleicht auch mit seiner eigenen Kindheit. Mit all dem, was er selbst früher erlitten hat.«
»Vielleicht sollten wir uns noch mal seine Zeichnungen genauer ansehen.«
Maja schüttelte den Kopf. »Ich glaube, dass alles zusammenhängt. Wir werden das eine nicht ohne das andere lösen. Wir müssen uns den ganzen Verlauf noch mal anschauen. Vom Fund der ersten Leiche bis zur letzten Vernehmung von Søren. Wir suchen nach etwas, das sowohl erschreckend als auch sehr banal ist.«
In diesem Augenblick wurde die Tür hinter ihnen geöffnet. Katrine drehte sich halb herum. Im Türrahmen stand Bent Faurholt vom Morddezernat. Maja schaute ihn erschrocken an.
»Hallo, Bent, bist du auch noch da«, sagte Katrine mit größter Selbstverständlichkeit in der Stimme.
Bent nickte bedächtig. Er war ein kleiner, rundlicher Mann Ende vierzig, der aufgrund seiner dünnen Haare und dunklen Augenringe aber deutlich älter wirkte. Er gehörte dem Dezernat schon genauso lange wie Katrine an, war aber nie die Karriereleiter hinaufgeklettert. »Darf ich fragen, was ihr hier tut?« Er beugte sich ein wenig zur Seite, um an Katrine vorbei zu Maja hinüberzuschauen.
»Ist ja kein Geheimnis«, antwortete Katrine und drehte sich ganz herum, so dass sie ihm den Blick auf Maja versperrte. »Wir bringen diese beiden Kisten hier ins Depot.«
»Ist das mit Tom abgesprochen?«
Katrine breitete die Arme aus. »Sonst wären wir ja wohl nicht nach Feierabend noch hier. Also bis bald.« Damit nickte sie ihm zu und drehte sich wieder um.
Er zögerte einen Augenblick, ehe er die Tür hinter sich schloss.
»Fettes Schwein«, zischte Katrine durch die Zähne. »Das ist das erste Mal, dass der nach Dienstschluss noch da ist.«
Maja stieß erleichtert die Luft aus. »Das war knapp«, sagte sie.
»Wir sollten uns
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