Die Geisel
lieber einen anderen Ort suchen, um den Inhalt der Kisten durchzugehen. Können wir zu dir, ich meine, ist Stig das recht?«
»Wir haben freie Bahn.«
Sie warteten fünf Minuten, bevor sie jede mit einem Karton auf dem Arm das Büro verließen. Auf dem Gang war niemand zu sehen. Katrine ging voran in Richtung Vorzimmer. Da hörten sie plötzlich ausgelassene Stimmen. Katrine warf einen kurzen Blick in den Raum. Bent stand mit zwei anderen Beamten vor einem Computerbildschirm. Ihre Gesichter waren von einem breiten Grinsen verzerrt. Auf dem Monitor war ein Pornofilm zu sehen.
Katrine drehte sich zu Maja um. »Die Jungs sind vom Pokern zum Poppen übergegangen, darauf können wir nicht warten.«
Als sie das Vorzimmer betraten, schauten die drei Männer überrascht auf. Der Jüngste von ihnen klickte schnell das Bild weg und schloss die Datei.
»Amüsiert euch gut«, sagte Katrine und ging um die Schranke herum. Maja folgte ihr auf dem Fuße.
Bent blickte von Katrine zu Maja. »Sollten die Kisten nicht ins Depot?«
Die beiden jungen Beamten warfen Katrine einen wachsamen Blick zu.
»Na, ins Depot des Präsidiums«, antwortete Katrine und verdrehte die Augen. »Bis morgen dann«, sagte sie mit breitem Lächeln, ehe sie sich umdrehte und Maja zuflüsterte: »Komm, komm, komm!«
Sie stapften weiter in Richtung Ausgang. Katrine schob die Tür mit dem Rücken auf. Durch die Glasscheibe sah sie, dass Bent schon zu seinem Handy gegriffen hatte.
»Nichts wie weg hier!«, raunte Katrine.
»Das ist das erste Mal, dass ich vor der Polizei abhaue«, sagte Maja und versuchte, mutig zu klingen. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich voll und ganz darauf konzentrieren musste, auf dem Weg zu ihrem Mercedes nicht ins Stolpern zu geraten.
Sie fuhren zu Maja nach Hause und trugen die Kisten ins Wohnzimmer. Maja holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, während Katrine begann, die Übersichtskarten mit Reißzwecken an der Wand zu befestigen. Die Fotos von den verschiedenen Fundorten und Sørens Wohnung legte sie in chronologischer Reihenfolge auf den Esstisch. Es war ein makabrer Anblick. Wie ein Landschaftsgemälde der Bosheit und des Todes. Das Sofa und die beiden Sessel dienten als Aufbewahrungsort für die verschiedenen Dokumente. Das Wohnzimmer erinnerte mehr und mehr an die frühere Ermittlungszentrale auf dem Revier. Maja nippte an ihrem Wein, während sie sich umsah. Irgendwo zwischen all den Dokumenten, Fotos und Sørens Zeichnungen war Timmie verborgen, und sie würden ihn finden.
Das Licht war verschwunden, und die Dunkelheit war gekommen, um zu bleiben. Die Deckenlampe hatte lange geflackert, als hätte sich ein Falter unter den Schirm verirrt. Wie lange das so gegangen war, wusste Timmie nicht mehr. Doch war es fast das Einzige, woran er sich noch erinnerte. Das Licht verschwand. Das Licht kehrte zurück. Nun war es für immer verschwunden.
Aus dem Hahn in der Ecke tröpfelte kein Wasser mehr. Seine Zunge hing schlaff im Mund wie ein ausgetrockneter Pilz. Die Dehydrierung hatte ihn so geschwächt, dass er sich nicht mehr bewegen konnte. Ansonsten hätte er sich gern ein bisschen vorgebeugt, um den letzten kühlen Hauch zu spüren, der durch die Ritze im Fußboden drang. Aber dazu war es jetzt ohnehin zu spät. Die Luft stand quälend still. Er döste vor sich hin und träumte, das Licht wäre zurückgekehrt. Er lag auf dem Rücken, und das Licht brannte ihm in den Augen, so wie die Sonne in der anderen Welt, die er vergessen hatte. Doch als er erwachte, war es immer noch dunkel. Da wusste er, dass das Licht nie mehr zurückkehren würde. Er wusste auch, dass keine Frischluft mehr kam. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis er sterben würde.
Das waren große Gedanken, wenn man erst neun Jahre alt war. Gedanken, die unerträglich waren. Also schloss er die Augen und versuchte, sie auf Distanz zu halten. Versuchte stattdessen, an etwas Schönes zu denken. Aber in seinem Kopf gab es nichts Schönes mehr. Sie hatten ihm alles genommen.
49
Der Mann, den Søren Hook genannt hatte, saß im Dunkeln an seinem Schreibtisch und wartete auf einen Anruf. Normalerweise riefen sich die Mitglieder des Kreises nicht gegenseitig an. Doch hatte er eine verschlüsselte Mail erhalten, in der von einem Notfall die Rede gewesen war.
Obwohl er nicht einmal die eigene Hand im Dunkeln erkannte, knipste er seine Schreibtischlampe nicht an. Es gab keinen Grund, seine Anwesenheit in dem Gebäude zu
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