Die Geisel
keinen klaren Gedanken mehr fassen - konnte überhaupt keinen Gedanken mehr fassen. Sie musste die Ruhe bewahren. Versuchen, die Dinge logisch zu betrachten. Sie setzte sich auf den Esstischstuhl und betrachtete die Zeichnung. Die Ziffernfolge hatte sie nie zuvor gesehen. Dennoch kam ihr die Kombination irgendwie bekannt vor. Als hätte sie sie irgendwo flüchtig wahrgenommen und sofort verdrängt. Als wäre sie mit einem Schmerz verbunden. Warum machte sie der Anblick dieser Nummer traurig?
Sie trommelte zerstreut mit dem Finger auf ihre Unterlippe. Konnten Ziffern traurig sein? Die Ereignisse der letzten Zeit zogen wie ein rückwärts laufender Film an ihr vorbei. Timmies Eltern - Der Vertrag mit Skouboe - Kaninchen-John - Stigs Abschied - der Mord an Søren - Sørens gebrochene Nase - Larsens Barolo-Klub - das Buch von Pan - die Glanzbildchen und die Sterne an der Decke - der Gefängnishof auf dem Dach - die Geräusche des Tivoli - die Verbrennung von Walthers Sachen - Stigs Hass - das Begräbnis - die Geburt - der Flug mit dem Hubschrauber - der Zug, der sie umgeworfen hatte - Søren im Lichtermeer …
Langsam kam sie der Sache näher. Sørens Gesichtszüge waren zugleich bösartig und morbid gewesen. Wäre Walthers Tod nicht gewesen, wäre sie niemals darauf gekommen. Nicht dass Søren so weit gedacht hatte. Er hatte seine eigenen Opfer. Was Søren notiert hatte, war kein komplizierter Code, sondern ein Wegweiser. Es war die Nummer eines Grabplatzes.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Maja zuckte zusammen. Konnte es schon die Polizei sein? Sie blickte zur Terrassentür und dachte für den Bruchteil einer Sekunde daran, durch den Garten und entlang dem ausgetrockneten Bach zu flüchten. Aber sie brauchte ihr Auto, das in der Einfahrt stand. Sie schlich in die Küche und spähte durchs Fenster. Von einem schwarzen Mondeo war nichts zu sehen. Vorsichtig beugte sie sich noch etwas weiter vor, um zu erkennen, wer vor der Haustür stand. Es war Hendriksen. Er strich sich über den Schnurrbart, ehe er ein zweites Mal klingelte. Nachdem er ein wenig gewartet hatte, sah sie ihn um das Haus herum in Richtung Garten verschwinden. Sie hatte zwar keine Ahnung, was er im Schilde führte, doch wenn es eine Gelegenheit gab, ihm zu entwischen, dann jetzt. Sie rannte aus der Haustür, warf sich in ihr Auto, ging in den Rückwärtsgang und setzte mit aufheulendem Motor aus der Einfahrt. In diesem Moment kam Hendriksen aus dem Garten gelaufen. Sie legte den ersten Gang ein und trat das Gaspedal durch.
Maja fuhr die Hauptstraße hinunter in Richtung Friedhof, der am anderen Ende der Stadt lag. Sie hatte zwei Rohypnol genommen, die sie noch in der Nachttischschublade gefunden hatte, sowie den Rest der ephedrinhaltigen Tabletten, die Katrine zurückgelassen hatte. Eine Kombination, die sowohl ihre schlechten Nerven beruhigen als auch ihren inneren Motor am Laufen halten sollte, obwohl sie seit sechsunddreißig Stunden nicht mehr geschlafen hatte. Auf dem Beifahrersitz lagen Sørens Zeichnung sowie das polizeiliche Dossier über ihn. Sie hatte sich beides geschnappt, bevor sie aus der Tür gelaufen war, ohne recht zu wissen, ob sie dafür Verwendung haben würde. Aber sie wusste, dass die Polizei schon bald ihr Haus durchsuchen und alle übrigen Unterlagen mitnehmen würde.
Seit Walthers Begräbnis war sie nicht mehr auf dem Friedhof gewesen, und sie verfluchte Søren dafür, sie jetzt dorthin zu lotsen. Sie besaß nicht genug Fantasie, um sich vorzustellen, welches Grab er ausgewählt hatte, und schauderte bei dem Gedanken, dass er womöglich Timmie dort begraben hatte.
Sie stellte den Mercedes auf dem Parkplatz neben dem Friedhof ab. Abgesehen von einem einfachen Lieferwagen, der an der weißgekalkten Friedhofsmauer stand, war der Parkplatz völlig leer. Auf Walthers Begräbnis hatte Stig sie auf dem Weg zur Kirche stützen müssen, damit sie nicht zusammenbrach. Sie erinnerte sich, wie alle Augen an ihr geklebt hatten. Sie bekam Bauchschmerzen, wenn sie daran dachte.
Sie ging auf den Haupteingang zu. Das schmiedeeiserne Tor war halb geöffnet und warf einen langen Schatten über den Kiesweg. Maja schob es behutsam ganz auf und trat hindurch. Seit dem Begräbnis hatte sie jeden Tag daran gedacht, hierherzukommen, war aber nicht dazu in der Lage gewesen. Der Gedanke, Blumen auf Walthers Grab zu legen, war unerträglich. Das würde ihr nur das Unwiderrufliche der Tragödie vor Augen führen. Doch wusste sie,
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