Die Geisel
weiß ich nicht, was du meinst. Hast du etwas geträumt? Von Walther?«
Sie sah ihm in die Augen. »Nein, ich meine den ermordeten Jungen, von dem die Nachrichten schon den ganzen Tag berichten. Dennis.«
Stig schaute sie erstaunt an. »Aber wie hast du …?«
Sie erzählte, wie sie am Morgen zufällig an der Klosterwiese vorbeigefahren war und den Sohn von Johnny Vang leblos am Baum hatte hängen sehen, bis er von den Sanitätern wie eine störende Frucht heruntergepflückt worden war.
»Aber warum hast du denn nichts davon erzählt?«, fragte Stig. »Das ist ja schrecklich.«
Sie zuckte die Schultern. »Ich wollte nicht, dass das in unser Leben kommt … uns irgendwie schadet.«
Er drückte sie an sich. »Das tut es nicht, mein Schatz. Wir sind doch zusammen. Ich passe auf dich auf. Und wir passen auf ihn auf.«
Er strich zärtlich über ihren Bauch und küsste sie auf die Stirn. Es tat gut, seine Wärme zu spüren. Seinen Schweiß zu riechen.
Sie wurde den Gedanken nicht los, wie schwer es gewesen war, schwanger zu werden. An all die missglückten Versuche. Schon vor Stigs Zeit. Auch mit ihrem Exfreund Jan. Sie musste ständig daran denken, was für ein unverschämtes Glück sie gehabt hatte und wie groß ihre Angst war, alles wieder zu verlieren.
Sie entfernte die Papierflocke, die an seiner Lippe klebte, seit er sie geküsst hatte.
»Aber es gibt eine Sache, die mir richtig Angst macht.«
Er schaute sie an. »Was?«
»All die Orte, an denen sie die Jungen gefunden haben. Im Moos. Auf der Wiese. Am Bach.«
Er nickte. »Was ist damit?«
»An all diesen Orten haben wir als Kinder gespielt. Dort haben wir uns versteckt.«
»Und?«
»Derjenige, der so was tut, kennt diese Gegend. Er kann nicht von außerhalb kommen.« Sie sah ihn ernst an. »Er wohnt unter uns, Stig.«
Stig legte den Arm um ihre Schultern, als sie aus dem Wagen stieg. Sie hatten sich für das Trendlinemodell entschieden, das er in der anderen Hand hielt. Maja trug das Elefantenmobile, das sie ebenfalls gekauft hatten. Es sollte über Walnuss’ Wiege hängen und alles Böse von ihm fernhalten. Als sie am Schaufenster vorbeigingen, fielen ihr die kindlichen, steifen, nackten Schaufensterpuppen auf. Eine von ihnen hatte den Arm zum Gruß gehoben. Sie schienen alle von der Leichenstarre befallen zu sein. Sie wandte den Blick ab. Dennis würde nicht der Letzte sein.
7
Von der dunklen Straße aus konnte er durch das Fenster im ersten Stock das Mobile sehen, das von der Zimmerdecke hing. Die sechs Holzelefanten warfen lange Schatten an die Decke. Im Wind, der durch das offene Fenster strich, drehten sie sich um die eigene Achse. Fast sah es so aus, als tanzten sie miteinander.
Søren Rohde betrachtete das Schattenspiel vom Inneren seines Lieferwagens aus. Wirklich ein schönes Mobile. Die farbigen Elefanten mussten jedem Kind eine Freude machen. Mussten es so zum Lachen bringen, dass es im Bauch kitzelte. Aber die Schatten, die von Elefanten an die Decke geworfen wurden, waren unheimlich. Sie würden das Kind erschrecken. Ihm mit ihrem dunklen Tanz Albträume bereiten. Sicher kein böser Wille der werdenden Eltern, vielmehr ein Ausdruck ihrer Unbedachtsamkeit. Sie wussten noch nicht, wie wichtig es war, die Dinge aus dem Blickwinkel der Kinder zu betrachten. Es waren die kleinen Dinge, auf die man achten musste. Kinder ließen sich leicht erschrecken. Genauso leicht konnte man sie zum Lachen bringen. Er mochte - nein, das war das falsche Wort -, er liebte das Lächeln auf ihren Lippen. Ebenso wie er ihre marmorweiße Haut liebte.
Das Licht im Zimmer erlosch, die Elefanten verschwanden.
Søren knirschte mit den Zähnen. Das monotone Mahlen war das einzige Geräusch, das durch die stille Nacht drang. Er dachte daran, was er heute gesehen hatte und welche Konsequenzen das haben mochte. Plötzlich hatte sie da gestanden. Mitten auf der Wiese unter den Indianern. Die stinkenden Rothäute mit ihren blauen Blinklichtern, ihren geifernden Hunden und ihren weißen Anzügen. Sie suchten nach Spuren, fanden aber nur die eine, die er bewusst zurückgelassen hatte. Wie dumm sie waren, diese Rothäute. Hoch über ihren Köpfen hatte er gestanden, auf dem Dach der alten Lagerhalle nahe am Park. Hatte gesehen, wie sie sich im Kreis bewegt hatten. Ein lächerliches Schauspiel. Im Grunde hatte ihn die ganze Sache gelangweilt, bis sie gekommen war. Wie aus heiterem Himmel. Plötzlich hatte sie da vor dem Absperrband gestanden. Er hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher