Die Geisel
sofort wiedererkannt - aus dem Buch. Vielleicht waren ihm deshalb gewisse Zweifel gekommen. Weil alles zu gut zusammenpasste. Was für ein unglaubliches Glück. So etwas konnte eigentlich nur in Nimmerland geschehen. Andererseits war er Peter Pan. War es doch nicht er allein, der über den Lauf der Dinge entschied? Warum sollte Wendy dann nicht nach Hause kommen? Das ergab einen Sinn. Die Kinder hatten sie zu sich gerufen. So wie sie ihn riefen mit ihrem Sirenengesang. Er musste einen Weg finden, sie willkommen zu heißen.
»Pan … und Wendy.« Er ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Sie schmeckten wunderbar.
8
Maja wog ihr Frühstück auf der kleinen Küchenwaage, als Stig keuchend in die Küche kam. Sein grauer Kapuzenpullover war durchgeschwitzt, ein dunkler Fleck zeichnete sich mitten auf seiner Brust ab. »Genau siebenundzwanzig Minuten, das ist neuer Rekord über fünftausend Meter«, sagte er mit hochrotem Kopf.
»Glückwunsch!« Sie lächelte ihn an und streute Müsli auf ihre Dickmilch. Vor ihrer Schwangerschaft war auch sie regelmäßig gelaufen und hatte die Fünfkilometerstrecke in nur zwanzig Minuten zurückgelegt, was sie Stig wohlweislich verschwieg. Sie freute sich schon auf die Joggingtouren mit Walnuss im Babyjogger, den sie bereits gekauft hatten.
Stig hatte die Post aus dem Briefkasten geholt und sie auf den Küchentisch gelegt. »Ich geh schnell unter die Dusche, du bist doch fertig, nicht wahr?« Er hatte seine Kleider auf den Boden geworfen und war schon auf dem Weg ins Badezimmer. »Ich glaube, ich krieg langsam einen Waschbrettbauch.« Er drehte sich strahlend im Türrahmen um und spannte den Bauch an.
Sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sieht mir eher nach Waschbärbauch aus.«
Stig schlug sich auf den Bauch, als könnte er ihn auf diese Weise zurückdrängen. »Ich hab übrigens Hendriksen getroffen …«
Maja verdrehte die Augen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass Henriksen ihnen am Tag ihres Einzugs einen Besuch abgestattet hatte. Nicht um sie willkommen zu heißen, sondern um sie darüber zu informieren, dass sie ihr Auto nicht am Bordstein parken dürften - das verstoße gegen eine Bestimmung der Hausbesitzervereinigung.
Sie kaute zu Ende. »Was für eine Verhaltensmaßregel hat er denn heute bekannt gegeben?«
»Gar keine, es ging um eine Kampagne.«
»Was für eine Kampagne?«
»Wegen der Morde, die hier passiert sind, will die Hausbesitzervereinigung eine Bürgerwehr gründen.«
Sie ließ den Löffel in die Schale fallen. Dickmilch spritzte auf ihr Kleid. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
Stig schüttelte den Kopf. »Aber nein. Das ist doch eine sehr gute Idee.«
Sie schnitt eine ungläubige Grimasse. »Ich bin doch nicht an den Ort meiner Kindheit zurückgekehrt, um einer Selbstjustizcombo beizutreten.«
»Darum geht’s auch gar nicht. Die Leute wollen am Abend einfach die Augen offen halten.«
»Ja, so fängt das an. Und ehe wir wissen, wie uns geschieht, haben die hier Stacheldrahtzäune und Wegsperren errichtet.«
»Ach komm«, sagte Stig und trommelte gegen den Türrahmen. »Ich hab gesagt, dass wir uns die Sache mal durch den Kopf gehen lassen.«
Er schloss die Badezimmertür, und im nächsten Moment hörte sie das Wasser rauschen. Der schweißdurchtränkte Kleiderhaufen lag mitten auf dem Küchenfußboden; dort würde er liegen blieben, bis sie am Abend nach Hause kam und ihn forträumte.
Sie schaute die Post durch, die aus unangenehm vielen Rechnungen und ein paar Lokalzeitungen bestand, zu deren Kündigung sie sich nicht hatte aufraffen können. Sie betrachtete die Fensterumschläge. Das Leben in den Vororten war teuer. Früher hatte sie ihr Geld für Stiefel von Gucci und Prada ausgegeben, heute ging es für irgendeine Kanalbaufirma und die neuen Thermofenster von Velux drauf. Doch litten sie keine Not, und dass sie sich in Skouboes Praxis eingekauft hatte, war ihre Altersabsicherung. Krankheiten waren stets ein gutes Geschäft, so zynisch sich das auch anhörte. Sie hoffte nur, dass Stig hier auch glücklich wurde.
Als sie die Briefe auf die Zeitung warf, löste sich eine Postkarte aus dem Stapel, machte einen Salto in der Luft und landete mit der Rückseite nach oben auf Stigs Kleiderhaufen. Sie bückte sich und hob die Karte auf. Die Schrift war kindlich und bedeckte die gesamte Rückseite. Eine Briefmarke gab es nicht. Maja las den Text: »Willkommen zu Hause, Wendy.« Unterschrieben mit: »Peter Pan.« Sie
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