Die Geisel
nicht.«
Um Timmies Mund bildete sich ein trauriger Zug. »Warum nicht?«
»Weil ich dann schon auf dem Weg nach Nimmerland bin, weg von hier, weg von allem, das sich hier befindet.« Er zeigte auf die Stadt. »Und du wirst allein hier sein. Ganz allein.«
Timmie ließ den Kopf hängen. »Aber kannst du mich nicht einfach später abholen?«
Søren schloss die Augen und roch an dem Jungen. Er roch gut.
Nach feuchtem Gras, nach Milch, nach Erde, nach rostigem Eisen und Lakritze.
»Nein, du weißt doch selbst, wie viele Lügen die Erwachsenen über Peter Pan erzählt haben. Die Zeitungen und das Fernsehen sind voll davon.«
Timmie blinzelte. Er schien unsicher, was er glauben sollte.
Søren fasste um seinen dünnen Arm. Er war so winzig. Viel kleiner als die gleichaltrigen Jungen. Wie ein kleiner Vogel. »Hör gut zu, Timmie. Ich habe eine Mutter für dich gefunden. Für uns alle zusammen. Sie wird auf dich und mich und alle verlorenen Jungen aufpassen.«
Timmie runzelte die Stirn. »Aber ich habe doch eine Mutter.«
»Aber ich meine eine, die auf dich aufpasst. Hat deine Mutter etwa verhindert, dass Käpt’n Hook kommt? Damit er dir nichts antun kann? Hat sie sich nicht stattdessen betrunken?«
Timmie antwortete nicht. Søren nahm sein Kinn und hob seinen Kopf, damit Timmie nicht wegsehen konnte.
»Wenn die Indianer uns fangen«, sagte er und deutete auf die flackernden Lichter der Taschenlampen, »dann werden es alle erfahren, Timmie. Alles, was Hook mit dir gemacht hat.«
Timmie riss erschrocken die Augen auf. »Wie meinst du das?«
»Ich meine das, was er da hinten und da drin bei dir gemacht hat.« Søren klopfte mit den Fingern auf seine Lippen. Der Junge wandte den Kopf ab.
»Und sie werden sagen, dass du es selbst gewollt hast. Werden hässliche Schimpfwörter zu dir sagen und dich anspucken.«
Timmies Kinn zitterte. Er war den Tränen nahe.
Søren strich ihm vorsichtig über sein feines blondes Haar. Timmie war haargenau wie er als Kind. »Ganz ruhig. Es wird sehr schön werden, wenn wir nach Nimmerland kommen. Dann werden wir Hook umbringen. Das verspreche ich. Dann ist nur noch Peter Pan da.«
»Ja?«
Søren stand auf und nahm Timmie an der Hand. »Jetzt müssen wir uns beeilen. Ich kenne einen Geheimweg. Einen Geheimweg, von dem die Indianer nichts wissen.«
Sie liefen quer über die Wiese, bis sie den ausgetrockneten Bach erreichten, der durch den Park lief und sich bis zur Bucht erstreckte. Er setzte darauf, dass die Polizei noch nicht damit begonnen hatte, ihn näher zu untersuchen. So, wie er sie kannte, würden sie damit warten, bis es hell wurde. Sie waren so vorhersehbar. Mit Wendy war es da schon etwas anderes. Aber Wendy war ja auch ein Mädchen, und bei denen wusste man nie, woran man war.
28
Maja blickte aus dem Wohnzimmerfenster und nippte an ihrem Tee. Ganz hinten im Garten sah sie die beiden Männer der Einsatztruppe, die sich zwischen den Rhododendronsträuchern versteckt hielten. Da Søren Rohde auf freiem Fuß war, wusste sie deren Anwesenheit sehr zu schätzen. Stig und sie hatten die ganze Nacht über kein Auge zugemacht. Stattdessen hatten sie im Bett gelegen und über Majas Recherchen gesprochen. Er war immer noch entsetzt darüber, dass sie ganz allein zu dem Haus gefahren war, in dem Søren Rohde wohnte, doch spürte sie auch, dass es ihm imponierte, was sie alles herausgefunden hatte. Im Spaß hatte er gesagt, dass er lieber über ihre Taten schreiben sollte als über den Schiffsuntergang, mit dem er sich gerade beschäftigte.
Sie drehte sich um und schaltete den Fernseher ein. Die Morgennachrichten drehten sich nahezu ausschließlich um die Großfahndung nach Søren Rohde. Die ganze Nacht war nach ihm und dem achtjährigen Timmie Brostrøm gesucht worden, den er auf seiner Flucht offenbar entführt hatte. Männliche Einzelpersonen waren im morgendlichen Verkehr von schwer bewaffneten Einsatzkräften kontrolliert worden. Es wurden Fotos von Timmie und Søren Rohde eingeblendet. Das Porträt von Rohde war mindestens zehn Jahre alt. Damals hatte er sehr kurze Haare gehabt. Maja fand das Foto irreführend und fürchtete, dass ihn niemand erkennen würde.
Danach wurden bewegte Bilder gezeigt, die vom Hubschrauber des Nachrichtensenders stammten. Er kreiste über der Bucht, deren Ufergebiete von der Polizei durchkämmt wurden. Bislang ohne Erfolg. Kurz darauf wurde ein Interview mit Katrine vor dem Revier gesendet, die den Stand der Ermittlungen zusammenfasste.
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