Die Geisel
zu sein.
Als sie an einem Supermarkt vorbeifuhren, sah Maja die Plakate mit den Schlagzeilen der Zeitungen. »Menschenjagd« las sie über den Fotos von Søren Rohde und Timmie. Sie wagte nicht daran zu denken, welche Torturen der Junge jetzt ertragen musste.
Nach einer halbstündigen Fahrt hatten sie den Fähranleger erreicht. Er befand sich nicht mehr dort, wo sie das letzte Mal die Oslo-Fähre genommen hatte. Damals war sie auf der Flucht vor einer gescheiterten Beziehung, ihrer Tablettensucht und einer Karriere gewesen, die gerade den Bach runterging. Inzwischen hatte sie das meiste unter Kontrolle gebracht. Ein neuer Mann, eine neue Karriere, ein neues Haus und ein Kind im Bauch. Dennoch hatte sie wieder dieses flaue Gefühl. Das Gefühl der Niederlage.
Sie rollten an der Zollstation und dem großen Terminal vorbei, ehe sie das Hafenbecken erreichten. Maja wollte gerade sagen, dass sie zu weit gefahren waren, als sich für sie ein Tor öffnete. Die Polizei ging kein Risiko ein und führte sie direkt zum Eingang der Fähre. Sie blickte zum riesigen weißen Schiff auf. Pearl of Scandinavia stand mit großen Buchstaben über der Bugklappe. Oben auf dem Deck hatten viele Passagiere an der Reling Platz genommen und genossen die Nachmittagssonne. Wenn man von den anwesenden Polizeibeamten absah, glich ihre Unternehmung eher einer Urlaubsreise als einer Flucht.
Maja sah sich in der Kabine um. Sie war angenehm groß und hell. Hier gab es sogar einen kleinen Balkon, auf dem sie den Sonnenuntergang genießen konnten, wenn sie aufs offene Meer hinausfuhren. Stig nahm Tom Majas Koffer ab.
»Hier haben Sie es ja richtig gemütlich«, sagte Tom.
»Vielen Dank für die Hilfe. Das war wirklich nett von Ihnen«, entgegnete Maja. In diesem Moment meldete sich ihr Handy. Sicher meine Mutter, dachte sie und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Ihr Plan war es gewesen, ihre Mutter erst über die Reise nach Norwegen zu informieren, wenn sie weit genug weg war. Am besten mitten auf dem Meer. Sie warf einen Blick auf das Display, doch die Rufnummer wurde unterdrückt. Es konnte nicht ihre Mutter sein.
»Wenn etwas ist, wir sind gleich nebenan«, sagte Tom.
Tom und seine Kollegen würden sie auf der gesamten Reise nach Oslo begleiten, wo die norwegische Polizei ihren Personenschutz übernahm.
Maja hob ab. Am anderen Ende war es still. Nur ein leises Rauschen war zu hören. »Hallo?«, sagte sie.
Plötzlich meldete sich eine Stimme. »Wendy … Bist du’s, Wendy?«
Es lief ihr kalt den Rücken herunter.
»Wer … Wer ist da?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Stig drehte sich beunruhigt zu ihr um.
»Du weißt genau, wer hier ist«, hörte sie. »Ich habe gesehen, wie du weggefahren bist, und habe mich gefragt, wo du hinwillst. Ich dachte, wir hätten eine Verabredung, dass wir uns bald wiedersehen. Bei deiner Eskorte könnte man fast glauben, du wärst auf der Flucht. Lass mich raten … Nach Norwegen?«
»Wer … Wer spricht da?«
Er überhörte ihre Frage. »Vielleicht bist du ja auf einem Schiff, das Pearl of Scandinavia heißt. Findest du nicht, es sollte auf Jolly Roger umgetauft werden, das Schiff von Käpt’n Hook?« Seine dünne Stimme und das Zähneknirschen ließen keinen Zweifel aufkommen. Er war es.
Maja legte die Hand über das Handy und flüsterte Stig zu: »Hol Tom, schnell!«
Stig eilte aus der Tür.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind«, log Maja. »Aber das ist nicht lustig.«
»Haben Sie dir eine Suite gegeben? Du hast sie verdient. Wirklich. Oder musstest du mit einer gewöhnliche Kabine vorliebnehmen? Wer weiß, vielleicht hast du ja eine mit Balkon?« Die letzte Bemerkung klang so, als würde er irgendwo ganz in der Nähe sein und sie beobachten.
Sie lief zum Fenster und schaute hinaus. Der Terminal erstreckte sich längs der Fähre. Er hatte zwei Etagen und eine große Fensterfront. Sie beobachtete die Passagiere, die sich zu Fuß auf dem Weg in die Fähre befanden. »Søren … Søren Rohde, sind Sie das?«
In diesem Moment stürmte Stig mit den beiden Beamten in die Kabine.
»Sind Sie auf dem Weg an Bord, Søren?« Sie fragte vor allem, um die anderen zu informieren, und zeigte energisch auf den Terminal.
»Pan«, knurrte er. »Ich heiße Pan.«
Alle starrten fieberhaft auf das Terminalgebäude. »Entschuldigung … Pan«, sagte Maja.
Er war nirgends zu sehen. Tom gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie weitersprechen sollte. Er drehte sich zu einem Kollegen um und zog
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