Die Geisel
Sie erzählte, dass man Søren Rohde aufgrund eines anonymen Tipps auf die Spur gekommen sei. Leider sei es nicht zu einer Festnahme gekommen, weil Rohde sich bereits abgesetzt hatte. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung habe man eine Reihe von Indizien gesichert, die ihn ebenso mit den ermordeten Kindern wie mit dem vermissten Timmie Brostrøm in Verbindung brächten. Darüber hinaus seien Gegenstände und narkotische Substanzen sichergestellt worden, die ebenfalls mit den Morden in Verbindung stünden. Der Reporter fragte nach, was genau gefunden worden sei, aber dazu wollte Katrine keine Aussage machen. Stattdessen richtete sie am Ende des Interviews einen direkten Appell an Søren Rohde. Sie bat ihn eindringlich, sich zu melden, damit man ihn behandeln und ihm helfen könne, und Timmie freizulassen, damit er seine Eltern wiedersehen könne. »Sie vermissen ihren kleinen Jungen«, sagte sie, indem sie direkt in die Kamera schaute.
Im Fernsehstudio referierte der Oberarzt Thorbjørn Larsen über das Wesen von Sexualverbrechern. Maja fiel auf, dass er dasselbe geblümte Hawaiihemd trug wie bei ihrem Gespräch in seinem Büro. Der Arzt wollte sich nur allgemein äußern, da er mit der spezifischen Persönlichkeit von Søren Rohde nicht vertraut sei. Er bezog sich ausschließlich auf die bisherigen Obduktionsergebnisse und die von der Presse veröffentlichen Informationen. Vor diesem Hintergrund sprach er von einem pädophilen Täter mit sadistischen Neigungen. Von einem Mann, der von dem Drang beherrscht wurde, sexuellen Umgang mit Kindern zu haben und diese zu töten. Das deute nicht nur auf eine abnorme Sexualität, sondern auch auf eine psychopathische Persönlichkeit hin, was sich in der Schizophrenie manifestiere, die bei Rohde bereits diagnostiziert worden war. Als eine Journalistin den Fokus auf die physischen Verletzungen richtete, die von brutalen sexuellen Übergriffen zeugten, schaltete Maja den Fernseher aus.
Es freute sie, dass die Polizei endlich eine heiße Spur hatte. Sie ging fest davon aus, dass sie Rohde früher oder später schnappen würden. Doch hatte sie auch das sichere Gefühl, dass Timmie nicht lebend wieder auftauchen würde, ganz gleich, wie viele Polizisten nach ihm suchten. Die einzige Hoffnung für sein Überleben war die Tatsache, dass sein Geburtstag erst in einigen Tagen stattfand. Wenn Claus’ Theorie zutraf, dass Rohde an der Verfeinerung seiner Morde arbeitete, hatte die Polizei vielleicht noch ein klein wenig Zeit. Aber das war nur ein dünner Strohhalm, an den sie sich klammern konnten.
»Hast du schon fertig gepackt?«
Sie drehte sich zu Stig um, der in Pyjamahose und T-Shirt vor ihr stand. Seine Haare standen in alle Richtungen ab. Sie musste an die erste Nacht denken, die sie miteinander verbracht hatten. Das war in seinem Haus auf dem Hügel gewesen. Sie war damals unglücklich gewesen, und er hatte sie getröstet. Sie hatten sich die ganze Nacht »geliebt«, besser gesagt, gerammelt wie die Karnickel. Am nächsten Morgen hatten seine Haare genauso ausgesehen wie jetzt. Da er sein Haus mittlerweile vermietet hatte, würden sie wohl in nächster Zeit bei seinen frommen Eltern wohnen müssen. Was ihr Gelegenheit verschaffen würde, etwas mehr mit ihrer zukünftigen Schwiegermutter zu reden als die zehn Wörter, die sie bisher gewechselt hatten.
»Ja, ich bin so weit fertig.«
Der schmale, marmorweiße Fuß schaute unter der Steppdecke hervor. Der Knöchel hob sich wie eine leuchtend helle Hügelkuppe. Der Spann bildete einen perfekten symmetrischen Bogen, der zu seinen feinen, kleinen Zehen verlief. Timmies großer Zeh zitterte leicht. Er musste sich mitten in einem Traum befinden. Weit weg von der engen, klaustrophobischen, weißen Zelle. Søren saß neben ihm mit dem Rücken an der Wand.
Er streckte die Hand aus, um die Decke über Timmies Fuß zu ziehen. Seine Finger griffen um den Stoff. Es war ein perfekter Fuß. Was für ein perfektes Gelenk, dachte er, als er die Decke leicht anhob. Timmie schlief tief und fest, betäubt von den drei Rohypnol-Tabletten, die er ihm vor ein paar Stunden gegeben hatte. Es würde lange dauern, bis er wieder erwachte. In der Zwischenzeit war er bewusstlos und würde nichts spüren. Nicht einmal, wenn man ihn unter den Füßen kitzelte. Es war nichts dabei, sein Fußgelenk zu berühren. Zu fühlen, wie weich es war, sich zu vergewissern, dass Timmie es warm genug hatte. Eine fürsorgliche Geste, nichts weiter. Das Fußgelenk war
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