Die Geisel
dich schon hierher geschleppt habe.«
Maja wandte den Kopf und sah sie an. »Das hört sich ja fast wie eine Entschuldigung an. Katrine Bergman entschuldigt sich. Das ist ja wirklich mal was Neues.«
»Dieser Fall bringt uns eben alle um den Verstand«, entgegnete Katrine ironisch.
»Aber ganz ehrlich, hast du nicht wahnsinnig viel zu tun?«
»Ganz ehrlich?«
Maja nickte.
»Das war unser letzter Trumpf. Wir haben keine Karten mehr, die wir ausspielen könnten. Es gibt keinen Stein, den wir noch nicht umgedreht hätten. Wir sind überall gewesen, haben alle Leute befragt. Wir haben sogar die Leute der Bürgerwehr dazu gebracht, sich auf der Mülldeponie umzusehen, falls Søren auf diese Weise versucht haben sollte, Timmie loszuwerden. Aber nichts. Keine Spur. Wenn Timmie gefunden wird, ist das reiner Zufall, es sei denn, Søren legt doch noch ein Geständnis ab.«
Maja runzelte die Stirn. »Ich habt eure Fahndung also eingestellt?«
»Natürlich nicht offiziell. Du hast den Polizeidirektor ja gehört. Im Moment suchen wir den Hafen und die gesamte Bucht ab. Taucher. Hubschrauber. Hunde. Gute Bilder für die Presse, aber wir sind dort überall längst gewesen, ich weiß gar nicht, wie oft. Und ab morgen, wenn Timmies Geburtstag vorbei ist und die Zeitungen sich wieder anderen Themen zuwenden, wird er unter ›vermisste Personen‹ archiviert werden. Dann haben wir einen Mordfall weniger, auf den wir uns konzentrieren müssen.«
»Geht es dir denn gar nicht nah, wenn ihr den Fall nicht aufklärt?«
»Natürlich. Auf der anderen Seite wäre es nicht das erste Mal. Man versucht, es nicht so nah an sich rankommen zu lassen.« Sie schien vor allem sich selbst überzeugen zu wollen.
Maja nickte und schaute aus dem offenen Fenster. Ein Kombi rollte an ihnen vorbei. Die Kinder auf dem Rücksitz schnitten Grimassen. Maja winkte ihnen zu. »Aber das ist doch merkwürdig.«
»Was?«
»Dass Søren schweigt, obwohl heute Timmies Geburtstag ist. Der Tag, auf den er so sehnlich gewartet hat.«
Katrine zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hat er die Sache abgehakt. Sich anders entschieden. Bei Vernehmungen habe ich das schon oft erlebt. Wenn man glaubt, gleich kommt das Geständnis, überlegen sie es sich plötzlich anders. Das ist sehr frustrierend, aber in diesem Fall ist es wohl so.«
»Kann schon sein. Aber man sollte doch davon ausgehen, dass er sein Werk krönen will. Ich meine, warum sollte er mich ins Gefängnis bestellen - mit allen für ihn so unangenehmen Begleiterscheinungen - und dann doch nichts erzählen?«
»Wer weiß schon, was in seinem Kopf vorgeht? Vielleicht wollte er nur mal wieder richtig im Mittelpunkt stehen. Es würde mich nicht wundern, wenn er dich auch in den kommenden Jahren an Timmies Geburtstag sprechen will.«
Maja schaute sie erstaunt an.
»Ist das dein Ernst?«
»So was hat es früher schon gegeben. Und jedes Mal wird er wieder irgendwas von Peter Pan erzählen und dir einreden, dass er diesmal wirklich etwas über Timmie erzählt.«
»Warum sollte er das tun?«
»Weil sich Typen wie er an der Schwäche anderer berauschen. Und wenn sie ein geeignetes Opfer gefunden haben, tun sie es immer und immer wieder. Vergiss ihn … Je eher, desto besser.« Sie richtete ihren Blick wieder auf die Fahrbahn und biss sich auf die Unterlippe.
Maja setzte sich mit einer Flasche Sancerre auf die Terrasse. Die Dämmerung brach herein, und die Schwalben flogen auf ihrer Jagd nach Mücken tief durch den Garten. Sie mochte diese Tageszeit. In der alles kühl und blau wurde.
Stig saß in seinem Arbeitszimmer und hämmerte auf die Tastatur ein. Sie hatte sich dafür entschieden, ihn nicht zu stören, als sie nach Hause gekommen war. Und er hatte es vorgezogen, sie zu ignorieren.
Der Besuch auf dem Gefängnishof trat allmählich in den Hintergrund. Mithilfe des beruhigenden Benzodiazepin und der halben Flasche Wein. Sie zündete sich eine Zigarette an und sog begierig den Rauch ein. Wie sehr sie ihre Kippen doch vermisst hatte.
Sie dachte an die Begegnung mit Søren. Schon möglich, dass er vollkommen durchgedreht war, dennoch wusste er ganz genau, wie er andere Menschen manipulieren konnte. Er hatte seine Opfer bestimmt dazu gebracht, ihm freiwillig zu folgen. Hatte sich in ihre Köpfe geschlichen, so wie er sich in ihren Kopf geschlichen hatte. Katrine hatte bestimmt Recht. Es wäre das Beste, ihn komplett zu vergessen. Je früher, desto besser. Allerdings war das nicht so einfach. Sie
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