Die Geisel
musstest. Dinge, die vielleicht dazu beigetragen haben, dass du so krank geworden bist. Aber das alles geht nur in deinem Kopf vor sich. Nicht in der Wirklichkeit.«
»Doch, sie wollen ihn töten«, schluchzte Søren.
»Nein, es gibt niemanden, der Timmie etwas antun will. Wir vermissen ihn alle und wären dir sehr dankbar, wenn du uns sagen würdest, wo er ist.«
Søren schüttelte den Kopf. »Du glaubst mir nicht, wenn ich es dir erzähle.«
Sie zwang sich, ihm die Hand auf die Schulter zu legen. »Warum sagst du nicht einfach, wo Timmie ist.«
Er schaute sie lange an. Sein kindlicher Ausdruck wich einem boshaften Blick. »Das kann ich dir sagen. Allein aus dem Grund, weil ich ernsthafte Zweifel an deinen Fähigkeiten bekommen habe. An deinem Mutterinstinkt. Ich meine, wenn du nicht mal auf dein eigenes Kind aufpassen kannst, wie willst du dann auf Timmie aufpassen?« Er begann zu grinsen.
»Du Scheißkerl!«
Sie holte in weitem Bogen aus und traf sein Kinn mit voller Kraft. »Du verdammter Scheißkerl.«
Søren schaute sie benommen an. Der Schlag hatte das Grinsen aus seinem Gesicht vertrieben.
Hinter ihr sprang die Tür auf. Katrine stürmte auf den Hof, gefolgt von den Wachleuten.
»Bist du okay?«
Maja nickte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie wischte sie wütend mit einer Hand fort. »Ich will weg von hier, sofort!«
Katrine legte ihr die Hand auf die Schulter und führte sie zur Tür.
»Da ist es wieder über dich gekommen, Wendy!«, rief Søren hinter Maja her. »Ich wusste, dass du es in dir hast.«
»Hat er dir gesagt, wo Timmie ist?«
»Nein.«
Katrine wandte sich an die Beamten. »Nehmt ihn in Sicherheitsverwahrung und fixiert ihn die nächsten achtundvierzig Stunden.«
»Wendy!«, rief Søren. »Glaub mir, er lebt. … Den Weg zu dem hohen Haus … hast du ja auch gefunden. Höre nun auf die Sterne. Höre auf sie. Sie singen für dich. Dann findest du Timmie, bevor Hook ihn findet.«
Die Tür zum Hof wurde geschlossen, und Sørens Rufe verhallten. Maja lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Claus kam zu ihr. »Geht’s wieder, Maja?«
»Nur zwei Minuten«, keuchte sie.
»Natürlich«, sagte er und tätschelte ihre Schulter. Er ging zu den anderen, die Maja ungeduldig betrachteten. Nachdem sie sich etwas erholt hatte, erzählte sie, was Søren gesagt hatte.
»Ergibt das überhaupt einen Sinn?«, fragte der Polizeidirektor.
Katrine schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand anders als Søren in die Sache verwickelt ist.«
Der Polizeidirektor sah zu Claus hinüber. »Was meinen Sie, Herr Willum?«
Claus nickte nachdenklich. »Was Maja aus ihm herausbekommen hat, ist mehr, als uns in der gesamten letzten Woche gelungen ist. Es bestärkt uns in unserem Eindruck, dass Søren Rohde unter schweren Wahnvorstellungen leidet. Darüber hinaus hat er ein extrem geringes Selbstwertgefühl, was sein Bedürfnis erklärt, seine Umgebung steuern zu wollen.«
»Und Timmie ist immer noch verschwunden, ohne dass wir den geringsten Anhaltspunkt haben, wo er sein könnte.«
Katrine nickte. »Wir suchen weiter.«
Der Polizeidirektor warf ihr einen kühlen Blick zu. »Sie sind sich ja wohl darüber im Klaren, dass wir die versammelte Presse am Hals haben. Falls es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, ist heute Timmies Geburtstag, und wir werden uns wohl in irgendeiner Form erklären müssen.«
»Ich habe die Presse nicht eingeladen«, erklärte Katrine und wandte sich an Maja. »Gehen wir?«
»Unser Dezernat kann sich kein Fiasko mehr leisten. Und Sie können sich keinen Fehler mehr leisten.«
»Fehler?«, fragte sie und fuhr herum. Sie warf dem Polizeidirektor einen wütenden Blick zu, beherrschte sich aber. »Sagen Sie ihnen, dass wir auf der richtigen Spur sind.«
Sie marschierte den Gang hinunter. Maja folgte ihr.
»Das haben wir von Anfang an gesagt!«, rief der Polizeidirektor.
»Dann sagen Sie es noch mal.«
36
Die Rushhour hatte eingesetzt, die Fahrzeuge auf der Umgehungsstraße bildeten eine lange Blechkolonne, die aus der Stadt herauskroch. Katrine und Maja rollten auf der äußersten Spur dahin. Der Verkehr kam beinahe zum Erliegen. Die sengende Sonne quälte sie, obwohl sie die Scheiben heruntergekurbelt hatten.
»Du hättest mich nicht mitnehmen müssen. Ich hätte mir auch ein Taxi besorgen können«, sagte Maja.
Katrine zuckte die Schultern. »Das ist doch das Mindeste, was ich für dich tun kann … Nachdem ich
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