Die Geisha - Memoirs of a Geisha
sogar den Verdacht, vorher nicht recht geglaubt zu haben, daß es die riesigen Hochhäuser in New York wirklich gab. Und als ich dann schließlich in meinem Zimmer im Waldorf Astoria stand und durchs Fenster auf die gigantischen Gebäude rings um mich und die glatten, sauberen Straßen tief unten blickte, hatte ich das Gefühl, mich in einer Welt zu befinden, in der alles möglich war. Wie ich gestehen muß, hatte ich erwartet, mir wie ein Baby vorzukommen, das man der Mutter weggenommen hat, denn ich hatte Japan noch nie verlassen und konnte mir nicht vorstellen, daß eine so fremdartige Umgebung wie New York ein anderes Gefühl in mir auslösen könnte als pure Angst. Vielleicht war es die Begeisterung des Direktors, die mir half, dem Besuch dort mit viel gutem Willen entgegenzusehen. Er hatte ein Extrazimmer genommen, das er fast ausschließlich für seine Geschäfte nutzte. Am Abend kam er stets zu mir in die Suite, die er gemietet hatte. Oft erwachte ich in diesem fremden Bett, und wenn ich mich umdrehte, sah ich ihn dort im Dunkeln in einem Sessel am Fenster sitzen, den glatten Vorhang heben und auf die Park Avenue unten hinabblicken. Einmal, nach zwei Uhr morgens, nahm er mich bei der Hand und zog mich ans Fenster, um mir ein junges Pärchen in Ballkleidung zu zeigen, das sich unter der Laterne an der Straßenecke küßte.
Im Verlauf der folgenden Jahre reiste ich mit dem Direktor noch zweimal in die Vereinigten Staaten. Während er tagsüber seinen Geschäften nachging, besuchten meine Dienerin und ich die Museen und Restaurants, ja sogar ein Ballett, das ich atemberaubend fand. Seltsamerweise wurde eins der wenigen japanischen Restaurants, die wir in New York finden konnten, von einem Koch geführt, den ich vor dem Krieg in Gion gut gekannt hatte. Eines Nachmittags saß ich dann während des Mittagessens unversehens in seinem Privatzimmer im rückwärtigen Teil des Lokals und unterhielt eine Anzahl Herren, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte: den Vizepräsidenten der Nippon Telephon & Telegraph, den neuen japanischen Generalkonsul, der früher Bürgermeister von Kobe gewesen war, und einen Professor der Staatswissenschaften an der Universität von Kyoto. Es war fast, als wäre ich wieder in Gion.
Im Sommer 1956 arrangierte der Direktor – der von seiner Frau zwei Töchter, aber keinen Sohn hatte – die Heirat seiner älteren Tochter mit einem Mann namens Nishioka Minoru. Der Direktor beabsichtigte, Herrn Nishioka den Familiennamen Iwamura zu verleihen, damit er ihn zum Erben machen konnte, doch dann änderte Herr Nishioka im letzten Moment seine Meinung und teilte dem Direktor mit, er könne sich nicht zu dieser Heirat entschließen. Er war zwar ein äußerst temperamentvoller junger Mann, nach Einschätzung des Direktors jedoch schlechthin brillant. Über eine Woche lang war der Direktor äußerst verärgert und ging ohne den geringsten Anlaß auf seine Diener und mich los. Noch nie hatte ich erlebt, daß er sich so sehr aufregte.
Niemand hat mir je erklärt, warum Nishioka Minoru seine Meinung änderte, aber das war auch nicht nötig. Im vorangegangenen Sommer hatte der Gründer einer von Japans größten Versicherungsgesellschaften seinen Sohn als Präsident entlassen und die Firma statt dessen einem weitaus jüngeren Mann anvertraut, seinem unehelichen Sohn mit einer Geisha aus Tokyo. Das löste damals einen gewaltigen Skandal aus. So etwas hatte es zwar in Japan schön öfter gegeben, aber auf einem ganz anderen Niveau, in Familienbetrieben etwa, die Kimonos oder Konfekt herstellten – Kleinfirmen eben. Der Direktor der Versicherungsgesellschaft schilderte seinen Erstgeborenen in den Zeitungen als »einen ernsten, jungen Mann, dessen Talente sich unglücklicherweise nicht vergleichen lassen mit denen von –«. Hier nannte er den Namen seines unehelichen Sohnes, ohne auf ihre Verwandtschaft hinzuweisen. Aber ob er darauf hinwies oder nicht, spielte überhaupt keine Rolle, denn jedermann erfuhr schon bald die Wahrheit.
Wenn Sie sich nun vorstellen, daß Nishioka Minoru, nachdem er schon zugesagt hatte, Erbe des Direktors zu werden, plötzlich eine ganz neue Information erhalten hatte – zum Beispiel, daß der Direktor vor kurzem einen unehelichen Sohn gezeugt habe… Nun ja, in diesem Fall wäre sein Zögern, diese Heirat einzugehen, vermutlich recht gut zu verstehen. Schließlich war weithin bekannt, wie sehr der Direktor es beklagte, keinen Sohn zu haben, und wie sehr er seinen beiden
Weitere Kostenlose Bücher