Die Geisha - Memoirs of a Geisha
überraschender Geschmack, so charakteristisch wie der von Obst oder Schokolade, und als ich den wahrnahm, sanken meine Schultern herab und mein Magen schwoll an, denn aus irgendeinem Grund rief er mir ein Dutzend verschiedene Szenen ins Gedächtnis, von denen ich nicht wußte, warum ich mich an sie erinnerte. Ich dachte an die Dampfwolke, wenn die Köchin den Deckel von dem Reiskocher in der Küche unserer Okiya hob. Ich hatte die Hauptdurchgangsstraße von Pontocho – eigentlich eine kleine Gasse – am Abend von Kichi-saburos letztem Auftritt vor mir. Der Kabuki-Darsteller zog sich von der Bühne zurück, und in der Gasse wimmelte es von Gratulanten. Bestimmt habe ich mich noch an Hunderte von anderen Dingen erinnert, denn es war, als seien alle Grenzen meines Verstandes gesprengt worden, so daß meine Erinnerungen frei umherschweifen konnten. Dann löste sich der Direktor wieder von mir, ließ eine Hand jedoch an meinem Hals liegen. Er war mir so nah, daß ich die Feuchtigkeit auf seinen Lippen sehen und immer noch den Kuß riechen konnte, den wir gerade beendet hatten.
»Direktor«, sagte ich. »Warum?«
»Warum was?«
»Warum… alles? Warum haben Sie mich geküßt? Sie haben doch gerade erst von mir als Geschenk an Nobu-san gesprochen.«
»Nobu hat dich aufgegeben, Sayuri. Ich habe ihm nichts weggenommen.«
Im Chaos meiner Gefühle begriff ich zunächst nicht, was er meinte.
»Als ich dich da mit dem Minister sah, hattest du genau denselben Ausdruck in den Augen wie den, den ich vor so vielen Jahren am Shirakawa-Bach gesehen hatte«, erklärte er mir. »Du hast so verzweifelt gewirkt, als müßtest du ertrinken, wenn nicht jemand käme, um dich zu retten. Nachdem Kürbisköpfchen mir dann erzählt hatte, daß du diese Szene für Nobus Augen geplant hattest, beschloß ich, ihm zu berichten, was ich gesehen hatte. Und als er dann so zornig reagierte… Nun, wenn er dir nicht verzeihen konnte, was du getan hattest, war er dir wohl niemals wirklich bestimmt.«
Eines Nachmittags, als ich noch ein Kind in Yoroido war, kletterte ein kleiner Junge namens Gisuke auf einen Baum, um in den Teich zu springen. Er kletterte viel höher, als gut für ihn war, denn das Wasser war nicht tief genug. Doch als wir ihm rieten, nicht zu springen, bekam er so große Angst vor den Felsen unter dem Baum, daß er nicht mehr hinabzuklettern wagte. Ich lief ins Dorf, um seinen Vater zu holen, Herrn Yamashita, der so gelassen den Hügel hinaufstieg, daß ich mich fragte, ob ihm klar war, in welcher Gefahr sich sein Sohn befand. Gerade als er unter den Baum trat, verlor der Junge – der nicht wußte, daß sein Vater gekommen war – den Halt und fiel. Herr Yamashita fing ihn so mühelos auf, als hätte ihm jemand einen Sack in die Arme geworfen, und stellte ihn auf die Beine. Wir alle schrien freudig auf und sprangen um den Teich herum, während Gisuke dastand und blinzelte, weil sich kleine Tränen des Erstaunens in seinen Wimpern sammelten.
Nun wußte ich genau, was Gisuke empfunden haben muß. Ich selbst war auf die Felsen zugestürzt, aber der Direktor war hervorgetreten, um mich aufzufangen. Ich war so überwältigt vor Erleichterung, daß ich nicht einmal die Tränen trocknen konnte, die mir aus den Augenwinkeln rannen. Seine Gestalt war ein verschwommener Fleck vor mir, aber ich sah, daß er näher kam, und gleich darauf nahm er mich in seine Arme, als wäre ich eine warme Decke. Seine Lippen suchten das kleine Dreieck aus nackter Haut, wo die Säume meines Kimonos an der Kehle zusammentreffen. Und als ich seinen Atem an meinem Hals spürte und das stürmische Drängen, mit dem er mich fast verbrannte, dachte ich unwillkürlich daran, wie ich vor Jahren einmal die Küche der Okiya betreten und gesehen hatte, daß eine der Dienerinnen über den Spülstein gebeugt stand und die reife Birne zu verbergen suchte, die sie an den Mund hielt, während der Saft ihr über den Hals rann. Sie habe ein so unstillbares Verlangen danach gehabt, erklärte sie mir, und bat mich, Mutter nichts davon zu sagen.
35. KAPITEL
Jetzt, fast vierzig Jahre später, sitze ich hier und erinnere mich an jenen Abend mit dem Direktor als den Moment, da alle bekümmerten Stimmen in mir zum Schweigen kamen. Seit dem Tag, an dem ich Yoroido verließ, hatte ich mich immer nur voll Bangen gefragt, welches Hindernis mir das Rad des Lebens jetzt wieder in den Weg legen würde, und natürlich waren es diese Sorgen und dieser Kampf gewesen, die mich das Leben
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