Die Geisha - Memoirs of a Geisha
aber ich hoffte tatsächlich, er habe eingesehen, daß es ein Fehler war, mich in dieses schreckliche Haus zu schicken, und schickte mir nun etwas, um mich aus der Okiya zu befreien. Ich kann mir kein Päckchen vorstellen, durch das ein kleines Mädchen aus der Sklaverei erlöst werden könnte, und die Vorstellung fiel mir schon damals schwer. Aber ich glaubte wirklich, daß sich mein Leben, sobald dieses Päckchen geöffnet wurde, grundlegend verändern würde.
Bevor ich mir überlegen konnte, was ich tun sollte, kam Tantchen die Treppe herab und scheuchte mich von der Schachtel weg, obwohl diese meinen Namen trug. Ich hätte sie gern selbst geöffnet, aber sie ließ sich ein Messer bringen, um den Bindfaden durchzuschneiden, und löste dann in aller Ruhe das dicke, grobe Papier. Darunter war eine Schicht Sackleinwand, vernäht mit schwerem Fischergarn. Auf die Sackleinwand war ein Umschlag mit meinem Namen genäht. Tantchen schnitt den Umschlag los, und als sie danach die Sackleinwand aufriß, kam darunter ein dunkler Holzkasten zum Vorschein. Ich war schon ganz aufgeregt vor Neugier auf den Inhalt, aber als Tantchen den Deckel abnahm, hatte ich das Gefühl, als wäre mir Blei in die Glieder gefahren. Denn dort lagen, in weißes Leinen gehüllt, die winzigen Totentäfelchen, die an dem Altar in unserem beschwipsten Haus gestanden hatten. Zwei von ihnen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, wirkten neuer als die anderen und trugen mir unbekannte buddhistischen Namen. Ich wagte mir nicht vorzustellen, warum Herr Tanaka sie mir geschickt hatte.
Zunächst ließ Tantchen den Karton mit den sauber aufgereihten Tafeln auf dem Boden stehen und zog den Brief aus dem Kuvert, um ihn zu lesen, während ich voller Angst dort wartete – eine halbe Ewigkeit, wie mir schien – und nicht nachzudenken wagte. Schließlich stieß Tantchen einen tiefen Seufzer aus und führte mich am Arm ins Empfangszimmer. Als ich dort am Tisch kniete, lagen meine Hände zitternd in meinem Schoß– vermutlich zitterten sie, weil es mich soviel Kraft kostete, all die furchtbaren Gedanken zu unterdrücken. Vielleicht war es ja ein hoffnungsvolles Zeichen, daß Herr Tanaka mir die Totentafeln geschickt hatte. Wäre es nicht möglich, daß meine Familie nach Kyoto umzog, daß wir uns einen ganz neuen Altar zulegen und die Tafeln davor aufstellen wollten? Aber vielleicht hatte auch Satsu darum gebeten, mir die Tafeln zu schicken, weil sie auf dem Rückweg hierher war. Dann unterbrach mich Tantchen in meinen Gedanken.
»Chiyo, ich werde dir jetzt den Brief eines Mannes namens Tanaka Ichiro vorlesen«, sagte sie mit einer Simme, die sonderbar schwer und schleppend klang. Ich glaube, mir stockte der Atem, als sie das Papier auf dem Tisch ausbreitete.
Liebe Chiyo:
Herbst und Winter sind vergangen, seit Du Yoroido verlassen hast, und bald werden die Bäume eine neue Generation von Blüten hervorbringen. Die Blumen, die dort blühen, wo alte verwelkt sind, erinnern uns daran, daß der Tod uns eines Tages alle ereilen wird.
Als Mann, der selbst einst ein Waisenkind war, tut es dieser bescheidenen Person aufrichtig leid, Dich mit einer schrecklichen Bürde belasten zu müssen. Sechs Wochen nachdem Du zu Deinem neuen Leben in Kyoto aufgebrochen bist, wurde Deine verehrte Mutter von ihrem Leiden erlöst, und nur wenige Wochen danach verließ auch Dein verehrter Vater diese Welt. Diese bescheidene Person drückt Dir ihr Beileid zu Deinem Verlust aus und versichert Dir, daß die sterblichen Überreste Deiner verehrten Eltern auf dem Dorffriedhof beigesetzt wurden. Die Trauerzeremonie für sie fand im Hoko-ji-Schrein von Senzuru statt, und die Frauen von Yoroido haben dazu Sutren gesungen. Diese bescheidene Person ist sicher, daß Deine verehrten Eltern ihre ewige Ruhe gefunden haben.
Die Geisha-Ausbildung ist ein anstrengender Weg. Diese bescheidene Person ist jedoch von Bewunderung für alle erfüllt, denen es gelingt, ihre Leiden umzumünzen und große Künstlerinnen zu werden. Als diese Person vor einigen Jahren Gion besuchte, war es ihr eine Ehre, die Frühlingstänze zu beobachten und anschließend an einer Feier in einem Teehaus teilzunehmen. Dieses Erlebnis hat einen tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen. Das Bewußtsein, daß Du einen sicheren Platz auf dieser Welt gefunden hast, Chiyo, und daß Du nicht gezwungen sein wirst, jahrelange Ungewißheit zu ertragen, ist dieser Person eine gewisse Genugtuung. Diese bescheidene Person lebt lange genug, um
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