Die Geisha - Memoirs of a Geisha
während der ganzen Zeit nie die Überzeugung aufgegeben, daß ich eines Tages anderswo ein besseres Leben finden würde, mit wenigstens einem Teil der Familie, mit der ich aufgewachsen war. In Gion lebte ich nur halb – meine andere Hälfte lebte in meinen Träumen von einer Rückkehr nach Hause. Darum können Träume ja so gefährlich sein: Sie glimmen weiter wie ein Feuer, und manchmal verschlingen sie einen mit Haut und Haar.
Während der restlichen Frühlingszeit und des ganzen Sommers nach diesem Brief kam ich mir vor wie ein Kind, das sich im Nebel auf einem See verirrt hat. Die Tage verschwammen ineinander. Von einem ständigen Gefühl des Kummers und der Angst abgesehen, erinnere ich mich nur noch bruchstückhaft an jene Zeit. An einem kalten Winterabend saß ich lange im Dienstbotenzimmer und sah zu, wie der Schnee lautlos den kleinen Innenhof der Okiya zudeckte. Ich stellte mir meinen Vater vor, wie er in seinem einsamen Haus hustend an seinem einsamen Tisch saß, während meine Mutter so schwach auf ihrem Futon lag, daß ihr Körper kaum Spuren hinterließ. Um meinem Elend zu entgehen, lief ich stolpernd auf den Innenhof hinaus, aber dem Elend, das in uns wohnt, können wir natürlich nicht entfliehen.
Dann, zu Frühlingsanfang, ein Jahr nach der traurigen Nachricht über meine Familie, geschah etwas. Es war im darauffolgenden April, als die Kirschbäume wieder einmal blühten, möglicherweise sogar auf den Tag genau ein Jahr nachdem ich Herrn Tanakas Brief erhalten hatte. Ich war inzwischen fast elf Jahre alt und begann ein wenig weiblich auszusehen, wohingegen Kürbisköpfchen immer noch wie ein kleines Mädchen wirkte. Größer als jetzt würde ich möglicherweise nicht mehr werden. Ein, zwei Jahre lang würde mein Körper noch mager und knochig wie ein dürrer Zweig bleiben, doch mein Gesicht hatte die kindliche Weichheit inzwischen verloren und wirkte um Kinn und Wangenknochen herum bereits ausgeprägt, und es war so in die Breite gegangen, daß es meinen Augen die richtige Mandelform verlieh. Früher hatten die Männer auf der Straße nicht mehr Notiz von mir genommen, als wenn ich eine Taube gewesen wäre; jetzt betrachteten sie mich genau, wenn ich an ihnen vorüberging. Nachdem man mich so lange ignoriert hatte, fand ich es seltsam, überall Beachtung zu finden.
Wie dem auch sei, eines Morgens in jenem April erwachte ich sehr früh aus einem äußerst merkwürdigen Traum über einen bärtigen Mann. Sein Bart war so dicht, daß ich seine Züge kaum erkennen konnte, fast so, als hätte sie jemand für einen Film verfremdet. Er stand vor mir und sagte etwas, an das ich mich nicht erinnern kann; dann schob er die papierbespannte Schiebetür nach draußen mit einem lauten klack beiseite. Ich erwachte, weil ich glaubte, ein Geräusch im Zimmer gehört zu haben. Die Dienerinnen seufzten im Schlaf. Kürbisköpfchen lag ruhig da, das runde Gesicht ins Kissen gedrückt. Alles wirkte genau wie immer, dessen bin ich mir sicher, doch meine Gefühle hatten sich plötzlich verändert. Es war, als sähe ich eine Welt, die sich von der gestrigen irgendwie unterschied – fast so, als blickte ich durch genau die Tür, die in meinem Traum geöffnet worden war.
Ich konnte mir nicht erklären, was das bedeutete. Doch während ich an jenem Morgen die Trittsteine im Innenhof fegte, dachte ich immer wieder darüber nach, bis ich dieses Summen im Kopf bemerkte, das davon kommt, wenn ein Gedanke wie eine Biene in einem Glas unaufhörlich im Kreis herumsummt, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Bald ließ ich den Besen stehen und setzte mich in den Hofkorridor, wo mir die kühle Luft, die unter den Fundamentsteinen des Haupthauses hervorkam, beruhigend über den Rücken strich. Und dann fiel mir etwas ein, woran ich seit meiner allerersten Woche in Kyoto nicht mehr gedacht hatte.
Ein oder zwei Tage nach der Trennung von meiner Schwester hatte man mir eines Nachmittags aufgetragen, ein paar Lappen zu waschen, als ein Falter vom Himmel kam und sich auf meinen Arm setzte. Ich schnippte ihn fort und erwartete, daß er davonflog, doch statt dessen segelte er wie ein Steinchen quer über den Innenhof und blieb dort auf dem Boden liegen. Ich wußte nicht, ob er schon tot war, als er vom Himmel fiel, oder ob ich ihn getötet hatte, aber der Tod dieses kleinen Insekts rührte mich tief. Ich bewunderte das schöne Muster auf seinen Flügeln, wickelte ihn in einen der Lappen, die ich wusch, und verbarg ihn unter dem Fundament
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