Die Geisha - Memoirs of a Geisha
des Hauses.
Seit damals hatte ich nicht mehr an diesen Falter gedacht, aber kaum fiel er mir wieder ein, da ließ ich mich auf die Knie nieder und suchte unter dem Haus, bis ich ihn gefunden hatte. So viele Dinge in meinem Leben hatten sich seit damals verändert, sogar mein Aussehen, doch als ich den Falter aus seinem Leichentuch wickelte, war er noch immer dieselbe wunderschöne Kreatur wie an dem Tag, wo ich ihn bestattet hatte. Er schien ein Gewand aus matten Grau- und Brauntönen zu tragen, wie meine Mutter, wenn sie zu ihren Mah-Jongg-Abenden ging. Alles an ihm wirkte schön und vollkommen und ganz und gar unverändert. Wenn doch nur etwas in meinem Leben noch genauso gewesen wäre wie in jener ersten Woche in Kyoto… Als ich das dachte, begann mir der Kopf zu wirbeln wie ein Hurrikan. Ich erkannte, daß wir beide – der Falter und ich – gegensätzliche Extreme waren. Meine Existenz war so instabil wie ein Bach und veränderte sich in jeder Hinsicht, aber der Falter glich einem Stein, der sich niemals verändert. Während ich dies dachte, streckte ich einen Finger aus, um die samtige Oberfläche seiner Flügel zu spüren, doch als ich ihn mit der Fingerspitze berührte, verwandelte er sich ohne jeden Laut, ja sogar ohne daß ich den Zerfall sehen konnte, in ein Häufchen Staub. Ich war so verblüfft, daß ich einen Schrei ausstieß. Meine wilden Gedanken hielten inne; mir war, als wäre ich ins Auge des Wirbelsturms gelangt. Ich ließ das winzige Leichentuch mitsamt dem Staubhäufchen zu Boden gleiten. Plötzlich begriff ich, was mir den ganzen Morgen lang im Kopf herumgegangen war. Die abgestandene Luft war davongeblasen worden. Die Vergangenheit war verschwunden. Meine Eltern waren tot und konnten nichts dagegen tun. Auch ich selbst war, glaube ich, während des vergangenen Jahres irgendwie tot gewesen. Und meine Schwester… Gewiß, sie war fort, aber ich war noch da. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich mich gedreht, um in eine andere Richtung zu blicken, so daß ich nicht mehr rückwärts in die Vergangenheit sah, sondern vorwärts in die Zukunft. Und nun lautete die Frage, die sich mir stellte: Was wird mir die Zukunft bringen?
In dem Moment, da sich diese Frage in meinem Kopf formulierte, wußte ich so sicher, wie ich nur jemals etwas gewußt hatte, daß ich irgendwann im Verlauf dieses Tages ein Zeichen erhalten würde. Deswegen hatte der bärtige Mann in meinem Traum die Tür geöffnet. Weil er mir sagen wollte: »Achte auf das, was sich dir zeigen wird. Denn das wird, wenn du es erkennst, deine Zukunft sein.«
Für weitere Gedanken blieb mir keine Zeit, denn ich hörte, daß Tantchen nach mir rief.
»Chiyo, komm her!«
Wie in Trance ging ich den Hofkorridor entlang. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Tantchen zu mir gesagt hätte: »Du willst wissen, was dir die Zukunft bringt? Also hör gut zu…« Statt dessen zeigte sie mir auf einem Stück Seide zwei Haardekorationen.
»Nimm das hier«, sagte sie zu mir. »Der Himmel weiß, was Hatsumomo gestern abend angestellt hat, aber als sie in die Okiya zurückkam, trug sie den Haarschmuck eines anderen Mädchens. Sie muß mehr als ihr übliches Quantum Sake getrunken haben. Geh in die Schule, such sie dort, frag sie, wem die Schmuckstücke gehören, und bring sie der Eigentümerin zurück.«
Als ich die Schmuckstücke entgegennahm, gab mir Tantchen einen Zettel, auf dem noch eine Anzahl weiterer Besorgungen notiert war. Sie wies mich an, auch diese zu erledigen und anschließend so schnell wie möglich in die Okiya zurückzukommen.
Daß eine Geisha mit dem Haarschmuck einer anderen nach Hause kommt, mag für Sie nicht sehr schwerwiegend klingen, in Wirklichkeit ist es aber genauso, als käme sie in der Unterwäsche einer anderen nach Hause. Geishas waschen sich nämlich nicht jeden Tag die Haare – wegen der komplizierten Frisuren. Darum ist ein Haarschmuck etwas äußerst Intimes. Tantchen wollte sie nicht einmal berühren, deswegen zeigte sie sie mir auf einem Stück Seide. Als sie sie darin einwickelte, um sie mir zu übergeben, sahen sie genauso aus wie der eingewickelte Falter, den ich erst wenige Minuten zuvor in der Hand gehalten hatte. Ein Zeichen bedeutet natürlich gar nichts, wenn man es nicht zu deuten weiß. Ich stand da und starrte auf das Seidenbündel in Tantchens Hand hinab, bis sie sagte: »Nun nimm schon, um Himmels willen!« Später, auf dem Weg zur Schule, faltete ich die Seide auseinander, um mir den Schmuck noch einmal
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