Die Geisha - Memoirs of a Geisha
Zehen tief in das Dach zu graben, und dann auch Ellbogen und Knie. Zuletzt tat ich in meiner Verzweiflung das Allerdümmste: Ich zog den Schuh von meiner anderen Hand und versuchte meinen Fall zu stoppen, indem ich beide Hände flach auf die Ziegel preßte. Meine Handflächen müssen schweißnaß gewesen sein, denn statt meinen Fall zu bremsen, beschleunigten sie ihn noch. Ich hörte, wie ich mit einem zischenden Geräusch hinabsauste, und dann war auf einmal das Dach weg.
Sekundenlang hörte ich gar nichts; um mich nichts als eine erschreckende Stille. Während ich durch die Luft segelte, hatte ich genug Zeit für eine klare Vorstellung: Ich sah eine Frau vor mir, die den Innenhof betrat, zu Boden blickte, den zersprungenen Ziegel auf dem Boden liegen sah und ihren Blick dann gerade noch rechtzeitig noch oben richtete, um zu sehen, wie ich vom Dach direkt auf sie drauffiel; aber so war es natürlich nicht. Ich drehte mich im Fallen und landete auf der Seite. Ich war noch imstande, meinen Kopf mit einem Arm zu schützen, aber ich schlug immer noch so hart auf, daß ich ganz benommen wurde. Ich weiß nicht, wo die Frau stand, und ob sie überhaupt im Innenhof war, als ich aus dem Himmel herabstürzte. Aber sie schien gesehen zu haben, wie ich vom Dach fiel, denn während ich wie betäubt auf dem Boden lag, hörte ich sie ausrufen:
»Du meine Güte! Es regnet kleine Mädchen!«
Nun, am liebsten wäre ich aufgesprungen und blitzschnell hinausgelaufen, aber das konnte ich nicht. Meine eine Körperhälfte schmerzte fürchterlich. Allmählich wurde mir bewußt, daß sich zwei Frauen über mich beugten. Die eine sagte immer wieder dasselbe, aber was, das konnte ich nicht verstehen. Dann sprachen sie miteinander, und eine hob mich vom Moosboden auf und setzte mich auf den hölzernen Verandagang. An ihr Gespräch erinnere ich mich nur bruchstückweise.
»Ich schwöre Ihnen, Herrin, sie ist vom Dach gefallen!«
»Warum in aller Welt sollte sie Toilettensandalen bei sich haben? Bist du da oben hinaufgestiegen, um die Toilette zu benutzen, Kleine? Kannst du mich hören? Warum tust du so was Gefährliches? Du kannst von Glück sagen, daß du dir beim Fallen nicht alle Knochen gebrochen hast!«
»Sie kann Sie nicht hören, Herrin. Sehen Sie sich doch ihre Augen an.«
»Natürlich kann sie mich hören. Sag was, Kleine!«
Doch ich vermochte nichts zu sagen. Ich konnte, als ich da lag, nur daran denken, daß Satsu gegenüber dem Minami-za-Theater auf mich wartete und ich nicht dort auftauchen würde.
Die Dienerin wurde die Straße entlanggeschickt, wo sie an alle Türen klopfen sollte, bis sie in Erfahrung gebracht hatte, woher ich kam. Inzwischen lag ich im Schockzustand zusammengekrümmt auf dem Boden. Ich weinte ohne Tränen und hielt mir den Arm, der furchtbar weh tat, als ich plötzlich merkte, daß mich irgend jemand auf die Füße riß und mir eine Ohrfeige versetzte.
»Du Dummkopf!« sagte eine Stimme. Vor mir stand Tantchen, die mich sogleich wutentbrannt hinter sich aus der Okiya und die Straße entlangzerrte. Als wir unsere Okiya erreichten, lehnte sie mich an die hölzerne Tür und versetzte mir eine zweite Ohrfeige.
»Weißt du überhaupt, was du angerichtet hast?« fragte sie mich, fuhr aber gleich fort, ohne die Antwort abzuwarten: »Was hast du dir bloß dabei gedacht? Jetzt hast du dir alles kaputtgemacht… Ausgerechnet so was! Du Esel, du Dummkopf!«
Nie hätte ich gedacht, daß Tantchen so zornig sein könnte. Sie zerrte mich in den Innenhof und warf mich bäuchlings auf den Verandagang. Jetzt begann ich richtig zu weinen, denn ich wußte, was mir bevorstand. Doch statt mich wie davor nur halbherzig zu schlagen, goß mir Tantchen einen Eimer Wasser übers Gewand, damit die Stockschläge noch mehr schmerzten, und verprügelte mich so schwer, daß ich nicht mehr atmen konnte. Als sie fertig war, warf sie den Stock zu Boden und rollte mich auf den Rücken. »Jetzt wirst du nie eine Geisha werden!« schrie sie mich an. »Ich hatte dich vor einem Fehler wie diesem gewarnt. Nun kann dir wirklich keiner mehr helfen!«
Was sie sonst noch sagte, ging in dem gräßlichen Lärm unter, der ein Stück entfernt auf dem Verandagang aufkam. Großmama verabreichte Kürbisköpfchen eine Tracht Prügel, weil sie nicht besser auf mich geachtet hatte.
Wie sich herausstellte, hatte ich mir bei meiner Landung in dem fremden Innenhof den Arm gebrochen. Am folgenden Morgen kam der Doktor und brachte mich in ein nahe
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