Die Geisha - Memoirs of a Geisha
mir, aber ich verneigte mich vor Hatsumomo, schob die Tür auf und verließ das Zimmer, ohne zu antworten. Sie hätte mich dafür schlagen können, aber sie folgte mir nur auf den Flur hinaus und sagte: »Wenn du wissen willst, wie es ist, dein ganzes Leben lang Dienerin zu sein, brauchst du dich nur an Tantchen zu wenden! Ihr beiden seid jetzt schon wie die zwei Enden eines Bindfadens! Sie mit ihrer gebrochenen Hüfte und du mit deinem gebrochenen Arm. Vielleicht schaust auch du eines Tages aus wie ein Mann, genau wie Tantchen!«
»So ist’s recht, Hatsumomo«, sagte Tantchen, »versprühe deinen weltberühmten Charme!«
Als ich ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren war und nie auch nur einen Gedanken an Kyoto verschwendet hatte, kannte ich in unserem Dorf einen kleinen Jungen namens Noboru, der von allen ignoriert wurde. Bestimmt war er ein netter Junge, aber er hatte einen höchst unangenehmen Geruch an sich, und das wird wohl der Grund dafür gewesen sein, daß er so unbeliebt war. Jedesmal, wenn er etwas sagte, schenkten ihm die anderen Kinder nicht mehr Aufmerksamkeit, als wenn ein Vogel gezwitschert oder ein Frosch gequakt hätte, und oft genug setzte sich der arme Noboru einfach auf den Boden und weinte. In den Monaten nach meiner mißlungenen Flucht begann ich zu begreifen, was für ein Leben das für ihn gewesen sein muß, denn auch mit mir wechselte kein Mensch ein Wort, es sei denn, um mir einen Befehl zu erteilen. Mutter hatte mich schon immer behandelt, als wäre ich ein Rauchwölkchen, denn sie hatte wichtigere Dinge im Kopf. Jetzt aber verhielten sich die Dienerinnen, die Köchin und Großmama genauso.
Den ganzen bitterkalten Winter lang fragte ich mich, was wohl aus Satsu geworden war, und aus meinen Eltern. Nachts, wenn ich auf meinem Futon lag, war ich ganz krank vor Sorge und spürte einen Abgrund in mir, so tief und leer, als wäre die ganze Welt nur noch eine riesige, menschenleere Halle. Um mich zu trösten, schloß ich die Augen und stellte mir vor, ich ginge in Yoroido den Pfad an den Klippen entlang. Den kannte ich so gut, daß ich mich in Gedanken dorthin versetzen konnte, ganz als wäre ich tatsächlich mit Satsu geflohen und wieder zu Hause. In meiner Vorstellung hielt ich Satsu bei der Hand – obwohl ich noch nie ihre Hand gehalten hatte – und lief voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit unseren Eltern auf unser beschwipstes Haus zu. In diesen Phantasien schaffte ich es niemals, das Haus zu erreichen: Vielleicht hatte ich zu große Angst vor dem, was mich dort erwartete, aber der Weg über diesen Pfad tröstete mich. Irgendwann hörte ich dann eine Dienerin husten oder vernahm das peinliche Geräusch, wenn Großmama stöhnend einen Wind abgehen ließ, und schon löste sich der Seegeruch ins Nichts auf, der Pfad unter meinen Füßen verwandelte sich wieder in meinen Futon, und ich war wieder da, wo ich begonnen hatte – mit nichts als meiner Einsamkeit.
Als der Frühling kam, blühten im Maruyama-Park die Kirschbäume, und ganz Kyoto kannte kein anderes Thema mehr. Wegen der vielen Kirschblütenfeste hatte Hatsumomo tagsüber mehr zu tun als gewöhnlich. Ich beneidete sie um ihr ausgefülltes Leben, auf das sie sich jeden Nachmittag vorbereitete. Die Hoffnung, eines Nachts aufzuwachen und zu entdecken, daß Satsu sich in unsere Okiya eingeschlichen hatte, um mich zu retten, oder daß ich auf irgendeine andere Art etwas von meiner Familie in Yoroido hörte, hatte ich allmählich aufgegeben. Als ich eines Morgens, während Mutter und Tantchen Vorbereitungen für ein Picknick mit Großmama trafen, die Treppe herunterkam, fand ich auf dem Boden der Eingangshalle ein Päckchen. Es war eine Schachtel, ungefähr so lang wie mein Arm, in dickes Papier gepackt und mit einem ausgefransten Bindfaden verschnürt. Ich wußte, daß es mich nichts anging, da aber niemand in der Nähe war, der mich sehen konnte, ging ich hinüber, um den Namen und die Adresse zu lesen, die mit dicken Schriftzeichen auf der Oberseite standen. Sie lautete:
Sakamoto Chiyo
c/o Nitta Kayokok
Gion Tominaga-cho
Stadt Kyoto, Präfektur Kyoto
Ich war so verdutzt, daß ich, die Hand vor dem Mund, lange dort stehenblieb, und ich bin sicher, daß meine Augen so groß wie Teetassen waren. Der Absender, gleich unter einer Reihe von Briefmarken vermerkt, war Herr Tanaka. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Päckchen enthalten konnte, da ich aber Herrn Tanakas Namen dort las… Sie finden es vielleicht absurd,
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