Die Geisha - Memoirs of a Geisha
meine Zukunft suchte. Doch als ich das Bündel in seiner Hand betrachtete und es so ähnlich wie das Leichentuch des Falters aussah, wußte ich, daß ich mein Zeichen endlich gefunden hatte. Ich nahm das Bündel, verneigte mich tief vor ihm und versuchte ihm zu sagen, wie dankbar ich ihm sei, obwohl ich sicher bin, daß meine Worte ihm nichts von der Tiefe meiner Gefühle vermitteln konnten. Ich dankte ihm nicht für die Münze, nicht einmal dafür, daß er sich die Mühe gemacht hatte, stehenzubleiben und mir zu helfen. Ich dankte ihm für… nun ja, ich weiß nicht mal, ob ich es jetzt erklären kann. Vermutlich dafür, daß er mir gezeigt hatte, daß es auf der Welt noch etwas anderes als Grausamkeit gibt.
Er ging davon, und als ich ihm nachsah, tat mir das Herz weh – obwohl es ein angenehmer Schmerz war, falls es so etwas überhaupt gibt. Ich meine damit, wenn man einen Abend erlebt, der aufregender ist als alles, was man bisher erlebt hat, ist man traurig, wenn er endet – und dennoch dankbar dafür, daß es ihn gegeben hat. Bei dieser kurzen Begegnung mit dem Direktor hatte ich mich von einem verlorenen Mädchen, das ein Leben der Leere vor sich sieht, in ein Mädchen mit einem Ziel im Leben verwandelt. Vielleicht hört es sich merkwürdig an, daß eine zufällige Begegnung auf der Straße eine solche Veränderung herbeiführen kann. Doch manchmal ist das Leben eben so, nicht wahr? Und ich glaube wirklich, wenn Sie dort gewesen wären und gesehen hätten, was ich sah, und gefühlt hätten, was ich fühlte, wäre Ihnen genau das gleiche passiert.
Als der Direktor aus meinem Blickfeld verschwunden war, eilte ich die Straße entlang, um den Eisverkäufer zu suchen. Es war an jenem Tag nicht besonders heiß, und auf Schabeeis war ich auch nicht sonderlich erpicht, aber es würde meine Begegnung mit dem Direktor verlängern. Also kaufte ich mir eine Papiertüte voll Schabeeis mit Kirschsirup und kehrte zurück, um mich wieder auf die Steinmauer zu setzen. Der Sirup schmeckte überraschend vielfältig – vermutlich nur, weil meine Sinne so geschärft waren. Wäre ich eine Geisha wie diese Izuko, dachte ich, hätte ein Mann wie der Direktor wohl ein wenig Zeit mit mir verbracht. Nie hätte ich gedacht, daß ich mal eine Geisha beneiden könnte. Gewiß, ich war nach Kyoto gebracht worden, um eine zu werden, aber bis jetzt wäre ich, falls das möglich gewesen wäre, stehenden Fußes davongelaufen. Nun begriff ich, was mir bisher entgangen war: Der springende Punkt war nicht, eine Geisha zu werden, sondern eine Geisha zu sein. Eine Geisha zu werden… also, das war kaum ein Lebensziel. Aber eine Geisha zu sein… Auf einmal sah ich es als Trittstein zu einem anderen Ziel. Wenn ich, was das Alter des Direktors betraf, richtig geschätzt hatte, war er vermutlich gerade mal fünfundvierzig. Viele Geishas hatten im Alter von zwanzig Jahren bereits enormen Erfolg. Die Geisha Izuko war vermutlich selbst erst fünfundzwanzig. Ich war immer noch ein Kind, nicht ganz elf Jahre alt. Aber in weiteren elf Jahren wäre ich über zwanzig. Und der Direktor? Der wäre dann nicht älter als Herr Tanaka jetzt.
Die Münze, die mir der Direktor gegeben hatte, war weit mehr, als ich für eine Eistüte brauchte. In meiner Hand hielt ich das Wechselgeld des Eisverkäufers: drei Münzen unterschiedlichen Wertes. Anfangs dachte ich daran, daß ich sie für einen weit wichtigeren Zweck verwenden könnte.
Im Laufschritt eilte ich zur Shijo-Avenue und bis an den Ostrand von Gion, wo der Gion-Schrein stand. Ich stieg die Treppe empor, war aber zu schüchtern, um durch das große, zwei Stockwerk hohe Portal mit seinem Giebeldach einzutreten, sondern ging außen herum. Nachdem ich den gekiesten Innenhof überquert und eine weitere Treppe hinter mich gebracht hatte, gelangte ich durch das Tor in die Kulthalle. Bevor ich die Münzen in den Opferstock warf – Münzen, die ausgereicht hätten, um mir die Flucht aus Gion zu ermöglichen –, meldete ich den Göttern meine Gegenwart, indem ich dreimal in die Hände klatschte und mich verneigte. Mit fest geschlossenen Augen und zusammengelegten Händen betete ich, sie möchten mir erlauben, daß ich irgenwie eine Geisha würde. Für eine Chance, noch einmal die Aufmerksamkeit eines Mannes wie des Direktors auf mich zu ziehen, würde ich freudig jede Ausbildung ertragen und jede erdenkliche Mühsal auf mich nehmen.
Als ich die Augen öffnete, hörte ich noch immer den Verkehr auf der
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