Die Geisha - Memoirs of a Geisha
Shirakawa-Bach, aber selbst hier eilten Herren und Geishas in ihrem so zielbewußten Leben an mir vorbei. Um diesen schmerzlichen Gedanken zu vergessen, wandte ich mich dem Shirakawa zu, doch grausamerweise schoß sein Wasser ebenfalls sehr zielbewußt dahin – auf den Kamo-Fluß zu, und von dort aus zur Osaka-Bucht und zum Binnenmeer. Es war, als wartete überall die gleiche Botschaft auf mich. Ich warf mich auf die kleine Steinmauer am Ufer und weinte. Ich glich einer einsamen Insel mitten im Ozean, ohne Vergangenheit und auch ohne Zukunft. Bald hatte ich das Gefühl, an einem Punkt angelangt zu sein, wo mich keine menschliche Stimme mehr zu erreichen vermochte – bis ich eine Männerstimme sagen hörte:
»Aber wie kann man an einem so schönen Tag so unglücklich sein!«
Normalerweise würde ein Mann auf den Straßen von Gion keine Notiz von einem Mädchen wie mir nehmen, vor allem, wenn es sich wie ich zum Narren macht, indem es weint. Wenn er mich überhaupt bemerkt hätte, so hätte er mich bestimmt nicht angesprochen, es sei denn, um mir zu befehlen, ihm Platz zu machen oder so ähnlich. Dieser Mann jedoch hatte sich nicht nur die Mühe gemacht, mich anzusprechen, er hatte sogar freundlich gesprochen und mich in einer Form angeredet, die andeutete, ich könnte eine angesehene junge Frau sein, die Tochter eines guten Freundes vielleicht. Einen winzigen Sekundenbruchteil lang stellte ich mir eine Welt vor, die ganz anders war als jene, die ich von klein auf kannte, eine Welt, in der ich fair, ja sogar freundlich behandelt wurde, eine Welt, in der Väter ihre Töchter nicht verkauften. Der Lärm und das Gewimmel all der Menschen um mich, die ihr zielbewußtes Leben führten, schien zu verstummen, vielleicht nahm ich es auch einfach nicht mehr wahr. Und als ich mich aufrichtete, um den Mann anzusehen, der mich angesprochen hatte, überkam mich das Gefühl, daß ich mein Elend dort auf der Steinmauer hinter mir zurückließ.
Ich werde ihn gern beschreiben, aber das kann ich nur, indem ich von einem bestimmten Baum erzähle, der in Yoroido am Rand der Klippen stand. Diesen Baum hatte der Wind so glatt wie Treibholz geschmirgelt, und als kleines Mädchen von vier, fünf Jahren fand ich eines Tages das Gesicht eines Mannes auf seinem Stamm. Das heißt, ich fand eine glatte Stelle, etwa so groß wie ein Teller, mit zwei scharfen Erhebungen am äußeren Rand, die Jochbeinen glichen. Die warfen Schatten, die an Augenhöhlen erinnerten, und unter den Schatten ragte sanft eine Nase hervor. Das ganze Gesicht saß ein wenig schief, so daß es mich fragend anzustarren schien. Auf mich wirkte es wie ein Mann, der genauso sicher in der Welt stand wie dieser Baum. Irgend etwas an ihm wirkte so in sich versunken, daß ich mir vorstellte, das Gesicht eines Buddhas gefunden zu haben.
Der Mann, der mich dort auf der Straße angesprochen hatte, besaß das gleiche breite, ruhige Gesicht. Und überdies waren seine Züge so glatt und gelassen, daß ich das Gefühl hatte, er werde dort stehenbleiben, bis ich nicht mehr unglücklich war. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, mit grauen Haaren, die glatt aus der Stirn gekämmt waren. Er wirkte so elegant auf mich, daß ich errötete und den Blick abwandte.
Neben ihm standen auf einer Seite zwei jüngere Männer, auf der anderen eine Geisha. Ich hörte, wie die Geisha leise zu ihm sagte:
»Aber das ist doch nur eine Dienerin! Vermutlich hat sie sich auf einem Botengang den Zeh gestoßen. Es wird bestimmt gleich jemand kommen, der sich um sie kümmert.«
»Ich wünschte, ich hätte dein Vertrauen in die Menschen, Izuko-san«, sagte der Mann.
»Die Vorstellung wird jeden Moment beginnen. Wirklich, Direktor, ich glaube, wir sollten keine Zeit mehr verlieren…«
Wenn ich in Gion Besorgungen machte, hörte ich oft, daß Herren mit ihrem Titel angeredet wurden, »Abteilungsleiter«, oder gelegentlich auch »Vizepräsident«. Den Titel »Direktor« hörte ich nicht so oft. Gewöhnlich waren die Männer, die mit »Direktor« angeredet wurden, kahlköpfig. Mit finsterem Blick stolzierten sie die Straße entlang, gefolgt von einem Schwarm jüngerer Manager. Dieser Mann vor mir unterschied sich von dem normalen Direktor so sehr, daß ich mir, obwohl ich nur ein kleines Mädchen mit so gut wie gar keiner Welterfahrung war, sofort dachte, seine Firma könne nicht besonders wichtig sein. Ein Mann mit einer wichtigen Firma wäre nicht stehengeblieben, um mich anzusprechen.
»Willst du sagen,
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